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19. April 2019, von Michael Schöfer
Drohende Hungersnot in Großbritannien


So richtig steigt man nicht durch, ob es Annette Dittert vom ARD-Studio London wirklich ernst meint. "Die Briten werden zu Selbstversorgern", liest man auf der Website der Tagesschau. "Es ist noch etwas Zeit bis zum Brexit, glücklicherweise. Denn kaum jemand hat wohl darüber nachgedacht: Wie soll man sich nach dem Austritt nur ernähren? Annette Dittert hat nachgeforscht, die Lösung heißt: Brexit-Survival-Kit." [1] "Der ernste Hintergrund dabei ist, dass bei dem Referendum niemand daran gedacht hat, wie man sich danach ernähren will", kommt Paulo, der Erfinder des Brexit-Survival-Kit, zu Wort. Dittert gibt zu, zuerst an einen Witz gedacht zu haben, doch sie versichert, das Brexit-Survival-Kit sei kein Witz.

Ehrlich, kein hintergründiger britischer Humor? Bei dem Referendum hat niemand daran gedacht, wie man sich danach ernähren will? Mein Gott, dass die britische Küche schlecht ist, war mir ja bereits bekannt. Aber dass der wahre Grund für den EG-Beitritt der Briten eine Hungersnot gewesen ist, habe ich bis dato nicht gewusst. Ich mache mir jetzt echt Sorgen um die armen Inselbewohner. Sollte dort nach dem Brexit tatsächlich eine Versorgungskrise ausbrechen, werden die Brexit-Survival-Kits von Paulo natürlich nicht ausreichen. Wir sollten deshalb schon einmal vorsorglich Care-Pakete packen. Am besten länger haltbare Dosennahrung, denn wann genau das Königreich die treusorgende EU im Stich lässt, ist schließlich noch offen. Gewiss, der 31. Oktober. Aber in welchem Jahr? Wie haben die Briten bloß die Zeit zwischen dem Abzug der Römer im Herbst 406 n. Chr. und dem EG-Beitritt im Jahr 1972 überstanden? Für mich eines der größten Rätsel der Weltgeschichte, denn Essen muss dort vorher völlig unbekannt gewesen sein. Oder unterstellt man uns Europäern etwa, eine Renaissance der napoleonischen Kontinentalsperre zu beabsichtigen? Ich kann den Briten in Anlehnung an den seligen Walter Ulbricht (Kampfname "Spitzbart") hoch und heilig versprechen: Niemand hat die Absicht, eine Kontinentalsperre zu errichten.

Doch Spaß beiseite, ich weiß nicht, ob wir durch die Medienberichterstattung noch korrekt informiert werden. Ständig wird uns suggeriert, die Briten würden mehrheitlich ein zweites Referendum fordern, in dem sie dann den Brexit rückgängig machen. Was allerdings dazu überhaupt nicht passt, sind die Umfragen zu einer möglichen Europawahl. Und die sind garantiert kein Witz: "Sollte Großbritannien an der Europawahl im Mai teilnehmen, werden einer Umfrage zufolge wohl viele EU-Gegner ins Parlament gewählt. Die neue EU-feindliche Brexit-Partei von Nigel Farage liegt laut Yougov im Vereinigten Königreich mit 27 Prozent deutlich vorn. Die größte Oppositionspartei Labour kommt demnach auf 22 Prozent, die regierenden Konservativen auf nur 15. Nach den Grünen (10 Prozent) und den Liberaldemokraten (9) folgt die EU-feindliche Ukip mit sieben Prozent." [2] Zählt man die Umfrageergebnisse der Leaver (Brexit-Partei + Ukip) zusammen, liegen beide mit 34 Prozent weit vor den Remainern (Grüne + Liberaldemokraten + SNP + Plaid Cymru), die lediglich 23 Prozent auf sich vereinen. Die Tories und die Labour Party sind in ihrer Haltung zum Brexit genauso tief gespalten wie ihre Wählerschaft.

Worüber leider kaum noch diskutiert wird, sind die Ursachen, die zum Brexit geführt haben. In meinen Augen ist die soziale Lage in Großbritannien für den Brexit verantwortlich. Doch was würde sich daran ändern, wenn die Briten in der EU blieben? Vermutlich nicht viel. Man muss die soziale Schieflage beseitigen, bloß ein zweites Referendum zu fordern, wie es die Medien oder der EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber tun, zielt am eigentlichen Problem vorbei. Selbst wenn es ein zweites Referendum geben sollte, ist noch lange nicht ausgemacht, dass diesmal die Remainer die Oberhand behalten. Die Umfrage belegt es. Dieser - Verzeihung - verdammte Turbokapitalismus ist schuld an der Misere. Nur eine einzige Zahl: "37 Prozent aller Kinder in London wachsen in Familien auf, die als arm gelten." [3] Wenn die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, während die Mittelschicht (das Rückgrat der Demokratie) erodiert, braucht man sich über Nationalismus und Austrittsentscheidungen wahrlich nicht zu wundern. Nur das Establishment will es mal wieder nicht wahrhaben. Und das ist nicht nur in Großbritannien so.

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[1] tagesschau.de vom 19.04.2019
[2] Merkur.de vom 17.04.2019, News-Ticker 18.58 Uhr
[3] tagesschau.de vom 14.04.2019