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27. April 2019, von Michael Schöfer
Die logische Konsequenz eures Handelns


Sie würden alle gerne gewählt werden. Vor allem die, die schon seit Jahrzehnten die Richtlinien der Politik bestimmen, aber trotz der ihnen anvertrauten Macht nur mäßige Ergebnisse abliefern. Drei Stichworte sind zur Erläuterung vollkommen ausreichend: Klimawandel, Wohnungsnot, Gerechtigkeit. Natürlich haben sie Angst, dass sie bei der Europawahl am 26. Mai einen Denkzettel verpasst bekommen. Und die Angst ist nicht einmal unberechtigt. 10,3 Prozent der Wählerinnen und Wähler sind laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung fest entschlossen, bei der Europawahl rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien zu wählen. Und 6,2 Prozent wollen für linksextreme oder linkspopulistische Parteien stimmen. [1]

Das klingt auf den ersten Blick bedrohlich, doch zumindest sagen auch 52 Prozent der Befragten, niemals für solche Parteien stimmen zu wollen. Die Lage ist daher keineswegs hoffnungslos. Das große Problem mit Blick auf den 26. Mai ist jedoch: Im Gegensatz zu den Populisten haben die etablierten Parteien erhebliche Schwierigkeiten, ihre potenziellen Wähler zu mobilisieren. Wenn die Parteien der Mitte erodieren und die Ränder stärker werden, befürchten manche sogar ein arbeitsunfähiges EU-Parlament. Entsprechend häufig sind nun in den Medien Warnungen vor den Populisten zu lesen.

Die Warnungen sind nicht unberechtigt, allerdings sitzen die Populisten nicht nur am rechten oder linken Rand des politischen Spektrums, selbst in der Mitte finden sich welche. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte Ende Januar: "Es gibt gute Chancen, dass wir in 10 bis 20 Jahren den Krebs besiegt haben." [2] Für diese Aussage wurde er zu Recht heftig kritisiert. Das sei sehr unwahrscheinlich, widersprachen ihm postwendend die Experten. Im Gegenteil, die Krebserkrankungen würden in den nächsten Jahren sogar ansteigen - von gegenwärtig 500.000 auf 600.000 pro Jahr. Grund sei die älter werdende Gesellschaft. [3]

"Entweder weiß er es nicht besser, oder Spahn hat für die populistische Aussage bewusst Prügel in Kauf genommen", kommentierte die Süddeutsche. "Richard Nixon hat schon 1971 den 'Krieg gegen den Krebs' erklärt, doch die Medizin ist trotz einiger Teilerfolge von einem Sieg meilenweit entfernt. (…) Jens Spahn führt mit haltlosen Ankündigungen zur Heilung von Krebs also eine politische Tradition fort. Ärzte und Forscher, die mühsam an besseren Therapien arbeiten und stolz auf die Fortschritte etwa in der Behandlung von Leukämien, Brustkrebs oder Hodenkrebs sein können, tut der Gesundheitsminister damit keinen Gefallen. Und schwer kranke Patienten brauchen einen aufrichtigen, fairen Umgang - und keine falsche Hoffnung." [4] Mit anderen Worten: Das, was Jens Spahn gesagt hat, war unverantwortlich.

Alle anderen hätten aus diesem Debakel ihre Lehren ziehen können, doch Populisten sind bekanntlich ausnehmend lernunwillig. Fakten spielen bei ihnen ohnehin bloß eine nachgeordnete Rolle. Nun steht Jens Spahn am 26. Mai gar nicht auf der Kandidatenliste, dafür jedoch der CSU-Politiker Manfred Weber. Letzterer ist sogar Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), dem Zusammenschluss der christlich-demokratischen, bürgerlich-konservativen und nationalkonservativ-rechtspopulistischen Parteien. Weber macht sich Hoffnung, bei einem Wahlsieg Nachfolger von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu werden. Anfang Februar konnte man in Bild am Sonntag lesen: "Kann die Politik den Krebs besiegen? Ja, sagt Manfred Weber (CSU)." [5] Dazu will Weber einen "Masterplan" für den Kampf gegen den Krebs entwerfen.

Peter Liese, bei der Europawahl Spitzenkandidat der CDU in Nordrhein-Westfalen, legte nach: "Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, dass in 20 Jahren niemand mehr in Europa an dieser schrecklichen Krankheit sterben muss." [6] Wenigstens fügte er einschränkend hinzu: Niemand könne "Wunder versprechen". Wunder nicht, aber beide machen wie Spahn unrealistische Hoffnungen.

Oder hat sich etwa die Meinung der Experten binnen kurzem geändert? Natürlich nicht, es ist halt bloß Wahlkampf. Warum haben die Medien eigentlich so viel Angst vor den Populisten, wenn die Politiker der etablierten Parteien nicht selten genauso populistisch daherkommen? Gewiss, die Rechtspopulisten sind eine ernste Gefahr für die Demokratie, doch es gibt ein einfaches Rezept gegen deren Wahlerfolge: gute Politik. "Je schlechter sich eine Person von den etablierten Parteien repräsentiert fühlt, desto mehr ist sie geneigt, Populisten ihre Stimme zu geben", heißt es in der eingangs erwähnten Studie der Bertelsmann-Stiftung. [7] Keine bahnbrechend neue Erkenntnis, die freilich von der Politik hartnäckig ignoriert wird.

Ein Beispiel: In den Ballungsräumen fehlt es an bezahlbarem Wohnraum, die Miet- und Immobilienpreise steigen ins Astronomische, die Mittelschicht wird peu à peu aus den Städten vertrieben. Die Bundesregierung will bis zum Ende der Legislaturperiode 1,5 Mio. neue Wohnungen bauen, so steht es jedenfalls im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Nun könnte man annehmen, dass die Politik in einer Zeit, in der viele die Enteignung von Wohnungsunternehmen fordern, den Schuss endlich gehört hat. Doch weit gefehlt, wie das Statistische Bundesamt soeben mitgeteilt hat, sind die Baugenehmigungen der Monate Januar und Februar 2019 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 0,1 Prozent gesunken. Ja, gesunken. Aber es kommt noch besser: "Gestiegen ist ausschließlich die Zahl der Baugenehmigungen für Einfamilienhäuser (+4,4 %). Die Zahl der Baugenehmigungen für Zweifamilienhäuser sank dagegen um 1,1 % und die Zahl der genehmigten Mehrfamilienhäuser um 3,2 %." [8] Der langfristige Trend bei den genehmigten Wohnungen weist neuerdings wieder nach unten (siehe Grafik). Die Situation wird also schlimmer anstatt besser.



Und dann fragt man sich als besorgter Bürger: Sind die Regierenden verrückt geworden? Merken die nicht, dass sich in der Mittelschicht, traditionell das Rückgrat der Demokratie, langsam aber sicher Verzweiflung breit macht? In Berlin müssen die Mieter inzwischen 46 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben, weil sich die Mieten dort in den letzten zehn Jahren fast verdoppelten. Wo soll das enden?

Und wenn selbst die linker Umtriebe völlig unverdächtige Deutsche Bundesbank feststellt, dass die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung 55 Prozent des Nettovermögens besitzen, die untere Hälfte jedoch lediglich 3 Prozent, weiß man im Grunde, was die Uhr geschlagen hat. [9] Da die vermögenderen Haushalte wenig auskunftsfreudig sind, wird der Anteil des Vermögens der reichsten 10 Prozent vermutlich sogar unterschätzt, schreibt die Bundesbank. Das heißt: In Wahrheit sind die Reichen noch reicher als angenommen, was im Umkehrschluss logischerweise bedeutet, dass der Anteil der unteren 50 Prozent der Bevölkerung noch geringer ausfällt.



Zudem existiert in Deutschland "ein riesiges Wohlstandsgefälle zwischen den Regionen. (…) Das geht aus einer neuen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung hervor. Städte und Kreise mit besonders niedrigem Einkommen waren demnach in Teilen des Ruhrgebiets, des Saarlands und Niedersachsens zu finden. Doch vor allem Ostdeutschland liege auch 30 Jahre nach der Wende weiterhin deutlich hinter dem restlichen Bundesgebiet, berichteten die Forscher. In nur 6 von 77 Ost-Kreisen und kreisfreien Städten überschritt das Einkommen pro Kopf die Marke von 20.000 Euro, während im Westen 284 von 324 Kreisen und Städten darüber lagen." [10] Kein Wunder, dass sich viele abgehängt fühlen. Sie sind abgehängt!

Das beklagen wir alles schon seit vielen Jahren. Und was passiert? Leider recht wenig. Den Populisten wirft man vor, Europa kaputt machen zu wollen. Doch den seit Jahrzehnten an der Macht befindlichen Parteien muss man vorwerfen: Ihr habt Europa längst kaputt gemacht. Die Populisten sind die logische Konsequenz eures Handelns. Und wenn ihr nicht endlich umkehrt, werden die Populisten das Zerstörungswerk vollenden.

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[1] tagesschau.de vom 26.04.2019
[2] Süddeutsche vom 01.02.2019
[4] Süddeutsche vom 04.02.2019
[5] BamS vom 02.02.2019
[6] Bild vom 19.04.2019
[7] Süddeutsche vom 26.04.2019
[8] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 160 vom 25.04.2019
[9] Deutsche Bundesbank, Private Haushalte und ihre Finanzen (PHF), Pressegespräch zu den Ergebnissen der dritten Erhebungswelle (2017), Seite 13, PDF-Datei mit 945 kb
[10] Thüringer Allgemeine vom 26.04.2019