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01. Mai 2019, von Michael Schöfer
Da lernt man Demut


Die eigenen Probleme werden plötzlich irrelevant, wenn man sich auf der Krankenstation mit einem älteren Mann unterhält, der vor kurzem einen Tumor entfernt bekommen hat. Wegen den noch vorhandenen Metastasen wird er zur Zeit bestrahlt. Ehrlich gesagt: Er sieht verdammt schlecht aus. Demut ist auch angebracht, wenn man im Krankenzimmer jemanden trifft, dem sie quasi den Unterleib ausgeräumt haben. Ebenfalls Krebs. Es ist dennoch erstaunlich, was heutzutage medizinisch alles möglich ist. Die künstliche Ernährung tut ihm zwar gut, doch das Schlucken von normalem Essen will noch nicht so recht klappen. Man soll nichts beschreien, aber man spricht realistisch betrachtet mit Todgeweihten. Furchtbar. Blickt man dem eigenen Schicksal in die Augen?

Was sind 70 oder 80 Jahre angesichts der Äonen, die seit dem Urknall vergangen sind? Und angesichts der Zeitdauer, die das Universum noch existieren wird? Nicht einmal ein Wimpernschlag. Die Erde ist ein bedeutungsloses Staubkorn im Seitenarm einer bedeutungslosen Galaxie, die sich wiederum in den schier unendlichen Weiten des Alls verliert. Für den Homo sapiens nur subjektiv wichtig, weil wir auf ihr existieren. Aber objektiv betrachtet? Niemand würde uns vermissen, wenn es uns nicht gäbe. Nur das hypothetisch letzte Individuum unserer Art wird der Menschheit nachtrauern.

Zurückblickend fragt man sich, warum man so viel Zeit mit nutzlosen Dingen vergeudet hat. Und in die Zukunft gerichtet, ob man noch genug Zeit geschenkt bekommt, die ungelesenen Bücher zu lesen. Hat man sein Leben sinnvoll genutzt? Hat man Spuren hinterlassen? Ist das überhaupt wichtig? In jungen Jahren machen wir uns darüber kaum Gedanken, was sich im Nachhinein vielleicht als Fehler herausstellt. Natürlich wäre es schön, wenn man sein Leben noch einmal leben könnte. Mit dem Wissen von heute, versteht sich. Aber der Zeitpfeil ist unerbittlich. "Zurück auf Los!" gibt es nur im Film und bei Monopoly.

Man muss es nehmen wie die Stoiker - es ist halt so, wie es nun mal ist. Irrtümer können wir nachträglich nicht mehr korrigieren, uns bloß wehmütig an die vielen ungenutzten Chancen erinnern. Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt legt in ihrem Roman "Der Sommer ohne Männer" einer Protagonistin folgende Worte in den Mund: "Altwerden ist schön, das Problem ist, dass der Körper dabei in die Binsen geht."

Klingt banal, aber ich denke, das trifft den Nagel genau auf den Kopf. Das Leben ist interessant, nichtsdestotrotz von Anfang an mit dem irreversiblen Vorgang des eigenen Zerfalls belastet. Eine Hypothek, die wir zeitlebens nie begleichen. Doch der Zahltag kommt. Unausweichlich. Irgendwann. Wenn es danach noch eine Erfahrung geben sollte, ist sie sicherlich die interessanteste von allen. Allerdings ist das höchstwahrscheinlich Wunschdenken und resultiert lediglich aus dem Bewusstsein der individuellen Endlichkeit.

Ich stehe hier auf einem Boden, auf dem vor 5.000 oder 10.000 Jahren ein anderer gestanden hat. Was mag er gedacht haben? Wie mag sein Leben verlaufen sein? Wir wissen es nicht und werden es nie erfahren. Wird man in 5.000 oder 10.000 Jahren wissen, was ich gedacht oder getan habe? Aller Voraussicht nach ebenso wenig. Das Schicksal des Einzelnen ist im Grunde ohne Belang. Doch was bleibt? Darauf weiß ich ehrlich gesagt keine Antwort. Und die Antworten von Menschen, die vorgaben es zu wissen, haben mich nicht zufriedengestellt. Wir basteln uns alle etwas zurecht. Hilfskonstruktionen, näher betrachtet nicht mehr als ein statisch höchst instabiles Kartenhaus. Immerhin trägt es. Für eine Weile. Bestenfalls einen Wimpernschlag lang.