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03. Mai 2019, von Michael Schöfer
In der Höhle des Kapitalismus


Kevin, das hättest Du eigentlich wissen müssen: Es ist zwar eine lässliche Sünde, die SPD an ihre eigenen Grundsätze zu erinnern. Aber es ist eine Todsünde, die sozialdemokratischen Grundsätze dann auch noch in der Praxis einzufordern. Im schlimmsten Fall droht Dir jetzt die Exkommunikation, sprich der Parteiausschluss. Kannst Du Dir vorstellen, welche Irritationen Du unter den Sozialdemokraten ausgelöst hast? Die glaubten bislang, der demokratische Sozialismus wäre von einem gewissen Wladimir Iljitsch Uljanow (besser bekannt unter seinem Decknamen "Lenin"). Apropos: Lenin, Kevin - da ist eine Ähnlichkeit nicht von der Hand zu weisen. Wie auch immer, in der SPD gilt jedenfalls nach wie vor das Diktum Helmut Schmidts: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Wenn Du das beherzigt hättest, dürftest Du auf SPD-Parteitagen sogar rauchen. Trotz striktem Rauchverbot. Unter dem tosenden Applaus Deiner Genossinnen und Genossen, versteht sich. Aber den Sozialismus, nein, den darf man keinesfalls gutheißen. Am besten erwähnt man ihn nicht einmal. Kevin, das macht man nicht.

Die SPD musste sich im Gegensatz zu Dir alles hart erarbeiten: "Ihre Grundsatzprogramme haben den Sozialdemokraten stets die moralische Rechtfertigung für ihre Politik geliefert. Ihre Grundwerte waren der Maßstab für die Diskussion der eigenen politischen Erfahrungen. Dieses Wechselverhältnis zwischen grundsätzlicher Wertorientierung und steter Reflexion der eigenen politischen Praxis sorgt für die Lebendigkeit der ältesten demokratischen Partei Deutschlands", schreibt die SPD auf ihrer Website. [1] Das Hamburger Programm wurde 2007 nach achtjähriger Diskussion angenommen. Merke Dir: Acht Jahre Diskussion, kein schludrig hingeworfenes Interview in der Zeit. Und wie lebendig die SPD ist, spürst Du ja am eigenen Leib.

Was steht im aktuellen Grundsatzprogramm drin? "'Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit', die Grundforderungen der Französischen Revolution, sind die Grundlage der europäischen Demokratie. Seit das Ziel der gleichen Freiheit in der Moderne zum Inbegriff der Gerechtigkeit wurde, waren und sind Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität die Grundwerte des freiheitlichen, demokratischen Sozialismus. Sie bleiben unser Kriterium für die Beurteilung der politischen Wirklichkeit, Maßstab für eine bessere Ordnung der Gesellschaft, Orientierung für das Handeln der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. (…) Das Ende des Staatssozialismus sowjetischer Prägung hat die Idee des demokratischen Sozialismus nicht widerlegt, sondern die Orientierung der Sozialdemokratie an Grundwerten eindrucksvoll bestätigt." [2] Nur fünf Mal kommt darin der "demokratische Sozialismus" vor, alles in allem ist er also leicht zu übersehen. Da kann man doch nicht einfach davon ausgehen, das sei wirklich ernst gemeint. Falls doch, bist Du bestimmt der Einzige.

Wenn Du die Wiedereinführung der Guillotine gefordert hättest, wäre die Empörungswelle wesentlich kleiner ausgefallen. Musste es - horribile dictu - unbedingt der Sozialismus sein? "Kühnert macht die SPD lächerlich" (Westfalen-Blatt), "Juso-Chef mag es radikal" (Die Welt), "Tiefschlag für die SPD" (Cicero), lauten die Schlagzeilen. Von den Verbalinjurien des politischen Gegners ganz zu schweigen. Es ist in der Tat in hohem Maße verwerflich, die SPD mit ihrem Grundsatzprogramm unter der Gürtellinie zu treffen. Auch Deine Parteifreunde (Feind, Erzfeind, Parteifreund!) fragen sich, was Du da geraucht hast. Das Gleiche wie ehedem Helmut Schmidt kann es nicht gewesen sein, denn der bevorzugte nachweislich THC-freie Menthol-Zigaretten. Selbst Andrea Nahles hat Deine Thesen als falsch zurückgewiesen, gibt Dir das nicht zu denken? Ja, denk' ruhig mal darüber nach! (Selbstverständlich über den demokratischen Sozialismus, nicht über die Parteivorsitzende.)

Ich empfehle Dir als heilsame Lektüre das Grundsatzprogramm der CDU. Wie bitte? Die sagen das Gleiche? Echt? Zitat: "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr als das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert." [3] Klingt fast wie die Linke. Kevin, ich an Deiner Stelle würde trotzdem die Finger davon lassen, nun auch den Christdemokraten ihr Programm von 1947 unter die Nase zu reiben. Womöglich reagieren die noch ruppiger als Deine Sozis. Bitte übertreibe es nicht.

Und Du darfst nie, hörst Du, wirklich niemals dem Andy Scheuer das CSU-Grundsatzprogramm von 1946 vorhalten, darin stehen nämlich so unerhörte Aussagen wie: "Die Wirtschaft ist nicht Selbstzweck; sie muß dem Wohl der Gesamtheit wie des Einzelnen dienen: Wir anerkennen das Recht des Staates, die Wirtschaft nach Gesichtspunkten des Gemeinwohls zu lenken!" [4] Zugegeben, die CSU trat - anders als die CDU - nie für Verstaatlichungen ein. Schon gar nicht für die Planwirtschaft. Aber so wie ich den Bundesverkehrsminister kenne, würde er Dir dennoch entgegnen, das sei "ein verschrobenes Retro-Weltbild eines Fantasten". Die Wirtschaft sei kein Selbstzweck? Welch revolutionärer Gedanke. Nach dreißig Jahren Neoliberalismus absolut undenkbar. Genauso wie jegliche Diskussion über den demokratischen Sozialismus.

Kleiner Tipp übrigens: Die deutsche Autoindustrie braucht man nicht zu verstaatlichen, die richtet sich nämlich gerade selbst zugrunde. Die kann man in ein paar Jahren spottbillig aufkaufen. Wo? In der Höhle des Kapitalismus natürlich - an der Börse!

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[1] SPD, Das Grundsatzprogramm, Das Hamburger Programm
[2] SPD, Hamburger Programm, PDF-Datei mit 2,1 MB, Seite 14 und 16, Hervorhebung durch den Autor
[3] Konrad-Adenauer-Stiftung, Das Ahlener Programm der CDU der britischen Zone vom 3. Februar 1947, Hervorhebung durch den Autor
[4] Hanns Seidel Stiftung, Das Grundsatzprogramm der CSU von 1946, PDF-Datei mit 1,4 MB, Hervorhebung durch den Autor