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09. Mai 2019, von Michael Schöfer
Eine dreiste Vorgehensweise


Professor Achim Wambach ist Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und Professor Christoph Schmidt Präsident des RWI - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. Was die Herren Professoren verdienen? Keine Ahnung, aber man wird ihnen wohl nicht zu nahe treten, wenn man beide als sogenannte Besserverdienende bezeichnet. Die Ökonomen haben sich angesichts von Prognosen über die zu erwartenden Steuereinnahmen in der Süddeutschen Zeitung zu Wort gemeldet. "Was ist jetzt zu tun?", lesen wir dort. "Beide sind sich einig, wie die Bundesregierung reagieren sollte: Der Solidaritätszuschlag müsse komplett abgeschafft werden, um die Mittelschicht zu entlasten. Zudem sollten geplante Vorhaben, vor allem in Sachen Alterssicherung, auf den Prüfstand." [1] Unter "in Sachen Alterssicherung" ist die Grundrente gemeint, die Geringverdiener vor Altersarmut bewahren soll.

Die Forderung, den Solidaritätszuschlag komplett abzuschaffen, wendet sich gegen das Vorhaben der SPD, den Soli bloß für 90 Prozent der Zahler zu streichen. So steht es auch auf Seite 53 des Koalitionsvertrags: "Wir werden insbesondere untere und mittlere Einkommen beim Solidaritätszuschlag entlasten. Wir werden den Solidaritätszuschlag schrittweise abschaffen und ab dem Jahr 2021 mit einem deutlichen ersten Schritt im Umfang von zehn Milliarden Euro beginnen. Dadurch werden rund 90 Prozent aller Zahler des Solidaritätszuschlags durch eine Freigrenze (mit Gleitzone) vollständig vom Solidaritätszuschlag entlastet. " [2]

Was bedeutet die Klausel des Koalitionsvertrags konkret in Euro und Cent? Ein Single würde bis zu einem Jahreseinkommen von 61.000 Euro komplett vom Soli befreit, bei einem Ehepaar mit zwei Kindern liegt diese Schwelle bei ungefähr 150.000 Euro. [3] Werden 12 Gehälter gezahlt, sprechen wir hier über ein Monatseinkommen von 5.083 bzw. 12.500 Euro (brutto).

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) definiert die Mittelschicht wie folgt: Im engeren Sinne gehören zu ihr Singles mit einem Monatseinkommen zwischen 1.440 und 2.710 Euro und Familien (2 Erwachsene, 2 Kinder) mit einem Monatseinkommen zwischen 3.030 und 5.690 Euro. Netto, wohlgemerkt. Die obere Mittelschicht endet bei Singles mit 4.520 Euro und bei Familien mit 9.480 Euro. [4] In Deutschland gehören 16 Prozent der Bevölkerung zur "oberen Mitte", 48 Prozent zur "mittleren Mitte" und 16 Prozent zur "unteren Mitte". [5]

Die Pläne von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) führen somit zu einer nahezu vollständigen Entlastung der Mittelschicht vom Soli, nur Teile der "oberen Mitte" und die sogenannten Besserverdienenden müssten ihn weiterzahlen. Anders ausgedrückt: Die Forderung von Achim Wambach und Christoph Schmidt werden dadurch bereits erfüllt. Ihre Forderung nach kompletter Streichung des Soli begünstigt im Wesentlichen die Reichen - also diejenigen, die es gar nicht nötig haben. Dass gutverdienende Professoren überdies am liebsten noch die Grundrente zur Verhinderung von Altersarmut verhindern würden, rundet das Bild ab. Solche höchst unsozialen Vorschläge basieren eher auf Ideologie statt auf Wissenschaft.

Zu alldem passt eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Wenig verwunderlich: Die Schere bei der Einkommensverteilung öffnet sich immer mehr, im Durchschnitt stiegen die Realeinkommen (Einkommen nach Abzug der Preissteigerung) zwischen 1991 und 2016 um 18 Prozent. Aber: "Die verfügbaren Realeinkommen der höchsten Einkommensgruppe (...) haben sich seit der Wiedervereinigung bis 2016, dem Jahr mit den aktuellsten verfügbaren Daten, um immerhin 35 Prozent erhöht. (…) Ganz unten (...) nahmen die realen Einkommen laut DIW seit 2010 sogar ab, trotz Wirtschafts- und Beschäftigungsbooms in Deutschland." [6] Keineswegs neu: Die Reichen wurden reicher, die Armen wurden ärmer. Ungeachtet dessen machen sich Wambach und Schmidt für die Reichen stark und bemänteln das Ganze auch noch mit ihrer vermeintlichen Sorge um die Mittelschicht. Diese Vorgehensweise nenne ich dreist.

Obendrein ist das Ganze ökonomisch kontraproduktiv. Die Mittelschicht braucht zweifellos eine spürbare Entlastung, die Reichen müssten jedoch höhere Steuern zahlen, schließlich wurden sie in den letzten Jahrzehnten deutlich entlastet. Als Immobilienbesitzer profitieren sie durch stark steigende Mieten und Grundstückswerte, die Mittelschicht hingegen wird durch den Mietpreiswahnsinn zunehmend an den Rand gedrängt. Will unsere Gesellschaft nicht auseinanderbrechen, müssen wir diese Entwicklung möglichst rasch umkehren. Den weisen Ratschlägen der Herren Ökonomen zum Trotz.

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[1] Süddeutsche vom 09.05.2019, Hervorhebung durch den Autor
[2] CDU, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, PDF-Datei mit 8,3 MB
[3] Spiegel-Online vom 06.01.2019
[4] RP-Online vom 20.11.2018
[5] Die Welt-Online vom 20.11.2018
[6] Süddeutsche vom 07.05.2019