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19. Mai 2019, von Michael Schöfer
Das beste Rezept, um Europa zu zerstören


"Für ein Europa der Solidarität und der sozialen Demokratie", heißt es im Vorwärts, der Parteizeitung der SPD. [1] Ein Wahlaufruf von Gewerkschaftern und Betriebsräten. Angela Merkel (CDU) sagt: "Die Solidarität ist ein Teil der europäischen DNA. (…) Die Solidarität zum Nutzen aller bedeutet auch, im eigenen Interesse zu handeln." Nationales Interesse und Solidarität wären kein Widerspruch. [2] Die Europawahl sei eine "Schicksalswahl", heißt es allenthalben. Der Zuspruch für die Rechtspopulisten ist in der Tat besorgniserregend.

Schauen wir uns doch die europäische Solidarität eingedenk der Gesetzmäßigkeit "Die Überschüsse des einen sind die Defizite des anderen" etwas genauer an. Dabei fällt auf, dass Deutschland mit Abstand der größte Profiteur des Binnenmarktes ist. Kein Wunder, wenn CDU und CSU den Binnenmarkt stärken wollen, denn er schafft zweifellos Wohlstand. Die Frage ist bloß, wessen Wohlstand da gestärkt wird. Weil Deutschland im Handel mit den anderen EU-Mitgliedstaaten permanent einen Handelsbilanzüberschuss erwirtschaftet (2018: 155,44 Mrd. €), ist die Wohlstandsverteilung offenkundig eine recht einseitige Angelegenheit. Die Klagen, Deutschland importiere zu wenig, sind durchaus berechtigt.

Deutschland Außenhandelssaldo 2018 [3]
im Handel mit
Überschuss
Defizit
Dänemark + 7,44 Mrd. €









Estland + 1,19 Mrd. €
Finnland + 2,41 Mrd. €
Frankreich + 40,04 Mrd. €
Griechenland + 3,77 Mrd. €
Italien + 9,66 Mrd. €
Kroatien + 1,82 Mrd. €
Lettland + 0,88 Mrd. €
Litauen + 1,50 Mrd. €
Luxemburg + 2,56 Mrd. €
Malta + 0,27 Mrd. €
Österreich + 21,82 Mrd. €
Polen + 8,12 Mrd. €
Portugal + 3,21 Mrd. €
Rumänien + 0,29 Mrd. €
Schweden + 10,39 Mrd. €
Spanien + 11,77 Mrd. €
Großbritannien + 44,98 Mrd. €
Zypern + 0,54 Mrd. €
Belgien






- 1,68 Mrd. €
Bulgarien - 0,34 Mrd. €
Irland - 2,16 Mrd. €
Niederlande - 6,94 Mrd. €
Slowakei - 0,44 Mrd. €
Slowenien - 0,75 Mrd. €
Tschechien - 3,63 Mrd. €
Ungarn - 1,28 Mrd. €
insgesamt
+ 172,66 Mrd. € - 17,22 Mrd. €

Das wäre aber nicht besonders tragisch, gäbe es unter den Mitgliedstaaten einen wie auch immer gearteten Finanzausgleich, doch genau damit tut sich Deutschland unheimlich schwer. Die Transferunion wird als Haftungsunion bzw. Schuldenunion schlechtgeredet und ausdrücklich abgelehnt. Auf der Facebook-Seite der CSU steht klipp und klar: "Jeder Mitgliedstaat haftet für seine eigenen Schulden. Wir lehnen es ab, Schulden oder Risiken zu vergemeinschaften. Mit uns gibt es keine Schulden- und Haftungsunion. Auch eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung kommt nicht in Frage." [4] Ohne diesen Finanzausgleich wird Europa jedoch keine Fortschritte machen, sondern weiter auseinanderdriften. Das sagt uns die ökonomische Logik.

Solidarität als Teil der europäischen DNA? Solidarität zum Nutzen aller? Das sind lediglich Wahlslogans, die mit der Realität nicht viel gemein haben. Gerade wegen dieser Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit fliegt uns derzeit Europa um die Ohren, bekommen die nationalistisch gesinnten Kräfte erschreckend viel Zuspruch. Natürlich beruht die Renaissance des Nationalismus auf einem Trugschluss, denn wir brauchen mehr und nicht weniger Europa. Ein soziales und solidarisches Europa. Allerdings nicht bloß in Sonntagsreden, sondern im konkreten Handeln. Es steht leider zu befürchten, dass es nach der Europawahl im gewohnten Trott weitergeht. Der bedeutet: Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer. Und die Mittelschicht dazwischen erodiert. Auch wenn es die etablierten Parteien nicht vorhaben: Das ist das beste Rezept, um Europa zu zerstören.

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[1] Vorwärts vom 03.05.2019
[2] CDU vom 13.11.2018
[3] Statistisches Bundesamt, Rangfolge der Handelspartner im Außenhandelder Bundesrepublik Deutschland, PDF-Datei mit 105 kb
[4] CSU, Facebook-Post vom 29.04.2019