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27. Mai 2019, von Michael Schöfer
Der politische Schmetterlingseffekt


Kleine, scheinbar unbedeutende Anlässe können mitunter große, nicht vorhersehbare Auswirkungen nach sich ziehen. Das nennt man "Schmetterlingseffekt": Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann als Ursache einer Ereigniskette Tornados in Texas auslösen. Gleiches begegnet uns momentan in der Politik. Wer hätte gedacht, dass eine 15-jährige schwedische Schülerin mit Asperger-Syndrom, die im August 2018 vor dem Reichstag in Stockholm ihren "Schulstreik für das Klima" begann, im Mai 2019 das deutsche Parteiensystem gehörig durcheinanderwirbelt? Hätte man es damals prophezeit, hätte man bestenfalls ein nachsichtiges Lächeln geerntet. Greta Thunberg war sozusagen der Schmetterling, der die weltweite Schülerbewegung "Fridays for Future" ausgelöst hat. Einfach dadurch, dass sie an jedem Freitag mit einem Pappschild vor dem schwedischen Parlament saß. Die Entwicklung, die ihr Schulstreik nahm, ist atemberaubend und macht Hoffnung.

Spätestens jetzt sind sich alle Kommentatoren einig, dass die Regierungsparteien in Berlin das Thema Klimawandel sträflich vernachlässigt haben. Wahlergebnisse können heilsam sein, denn in Wahlen prallen gelegentlich Wunsch und Wirklichkeit hart aufeinander. Im vorliegenden Fall war es der rückblickend gesehen naive Wunsch der Regierenden, trotz eklatanter Untätigkeit weiterhin Mehrheiten zu gewinnen. Sie haben sich gründlich getäuscht. Und schlagartig sieht die politische Landschaft anders aus, plötzlich ist etwas gekippt. "Fridays for Future" hat ein Thema ganz nach oben gepusht, bei dem Union und SPD jede Glaubwürdigkeit verspielt haben: Die Zukunft der nachwachsenden Generationen unter dem Vorzeichen der Erderwärmung. Die Philippika des Youtubers Rezo war da bloß noch das Sahnehäubchen obendrauf. Die ach so unpolitische Jugend ist aufgewacht und aktiv geworden.

Nach Angaben der Forschungsgruppe Wahlen kamen CDU und CSU bei der Europawahl in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen auf gerade mal 14 Prozent und die SPD auf magere 9 Prozent. Im Gegensatz dazu stehen 31 Prozent für die Grünen. [1] Nur in der Altersgruppe der 60-Jährigen und darüber liegen die ehemaligen Volksparteien noch deutlich vor der Umweltpartei. Aber… Ich sage mal: biologischer Prozess! Besser wird’s nimmer! Vor allem, wenn man zu allem Überfluss auch noch so arrogant reagiert. Thomas Bareiß, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundeswirtschaftsministerium und Mitglied des CDU-Bundesvorstands, twitterte am Wahlabend: "Wenn die Erstwähler mal ihr eigenes Geld verdienen und selber spüren wer das alles bezahlen muss sieht die Wahl vielleicht auch wieder anders aus. Ich bin sicher, dass schlussendlich die Vernunft siegt. Also mal abwarten.…" [2] Gelinde gesagt: Hilfreich war das nicht.

Klingt fast wie Christian Lindner: "Ich bin für Realitätssinn, von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen. Das ist eine Sache für Profis." [3] Die FDP kam übrigens am 26. Mai bei den 18- bis 29-Jährigen auf lediglich 8 Prozent. Angesichts der fortschreitenden Erderwärmung muss man leider konstatieren, dass die "Profis" (sprich die Politiker) offenkundig versagt haben. Genau deshalb treibt es ja die Schülerinnen und Schüler freitags mit dem Spruch "Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!" auf die Straße. Und sie lassen sich nicht mehr mit den üblichen Phrasen der Politiker abspeisen. Wunderbar.

Die Grünen haben durch ihre Stimmengewinne enormen Rückenwind bekommen, in ihnen spiegelt sich das liberale und umweltbewusste Bürgertum wider. Demgegenüber sehen die Konservativen in der Union, die noch vor kurzem den Aufstand gegen Angela Merkel geprobt haben, mit einem Mal furchtbar alt aus. Will heißen: Falsche Richtung! Oder glaubt jemand ernsthaft, Friedrich Merz oder die stockkonservative "Werteunion" könnten bei den Jungen einen Blumentopf gewinnen? Das wird selbst Annegret Kramp-Karrenbauer schwerfallen - vor allem, wenn sie als Reaktion auf Rezo den Eindruck erweckt, Meinungsäußerungen im Internet beschneiden zu wollen. [4] Von der traditionell phlegmatisch reagierenden Bundeskanzlerin ganz zu schweigen. Die Union läuft Gefahr, eine ganze Generation dauerhaft zu verprellen. Allerdings: Es stört mich kein bisschen, wenn denen der kalte Wind ordentlich ins Gesichts bläst.

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[1] Forschungsgruppe Wahlen, Europawahl 2019, Befragung am Wahltag
[2] Twitter-Account von Thomas Bareiß, 26.05.2019, 21:36 Uhr
[3] Bento vom 10.03.2019
[4] T-Online vom 27.05.2019