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10. Juni 2019, von Michael Schöfer
Die Rettung der SPD


Laut dem aktuellen ARD-Deutschlandtrend glauben 27 Prozent der Befragten, dass die Grünen "im Moment die besten Antworten auf die Fragen der Zukunft" haben. Von der SPD glauben das nur zwei Prozent, dabei galt die SPD lange Zeit als die Fortschrittspartei. Bei der Sonntagsfrage (Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre…) kommt die SPD bloß noch auf 12 Prozent. Deprimierender könnte das Ergebnis für die Sozialdemokraten kaum ausfallen, die älteste Partei Deutschlands befindet sich im freien Fall - und es ist nichts in Sicht, was den Aufschlag dämpfen oder gar verhindern könnte.

Doch das geht, die SPD muss es nur wollen. Notabene: Sie muss es wirklich wollen, nicht nur halbherzig. Dazu sollten wir uns zunächst daran erinnern, was zum beispiellosen Abstieg der Sozialdemokratie geführt hat. Und das war ohne Zweifel die Ankündigung der Agenda-Politik von Gerhard Schröder kurz nach der Bundestagswahl 2002. Obgleich das Wahlprogramm vom Juni 2002 etwas anderes aussagte, verkündete der SPD-Kanzler am 14. März 2003 seine "Agenda 2010". Und die Parteifunktionäre trugen alles mit, beim Sonderparteitag am 1. Juni 2003 billigten laut Parteitagspräsidium rund 90 Prozent der Delegierten Schröders Kurs.

Die SPD vollzog, wovor Helmut Kohl (CDU) zurückschreckte. Dass sich die Verantwortlichen, nachdem deutlich wurde, was sie angerichtet hatten, kaum glaubwürdig davon distanzieren konnten, war eigentlich von vornherein klar. Gerhard Schröder wollte nicht, und die Riege um Franz Müntefering, Frank-Walter Steinmeier und Walter Riester ebenso wenig. Bekennende Überzeugungstäter. Die Partei der sogenannten "kleinen Leute" ging dem neoliberalen Zeitgeist auf den Leim, spielte plötzlich den Gernegroß (der Brioni-Anzüge tragende und Cohiba-Zigarren rauchende Kanzler galt keineswegs zu Unrecht als "Genosse der Bosse"). Vom damit verbundenen Glaubwürdigkeitsverlust hat sich die SPD bis heute nicht erholt.



Martin Schulz wäre es dennoch fast gelungen. Als der beim Wahlvolk äußerst unbeliebte Sigmar Gabriel erneut auf die Kanzlerkandidatur verzichtete, folgte der fulminante Aufstieg des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments. Der Schulz-Effekt war geboren. Die Partei jubelte, die Umfrageergebnisse erreichten für damalige Verhältnisse unerreichbar geglaubte Höhen, die SPD war kurzzeitig mit sich und der Welt im Reinen. Insgeheim träumte sie sogar vom Wahlsieg. Der anfangs ungemein populäre Schulz setzte ganz auf das Thema Gerechtigkeit, allerdings macht er dabei zwei gravierende Fehler:

Erstens vergaß er zu konkretisieren, was er sich unter Gerechtigkeit vorstellte und was die SPD davon umzusetzen gedachte. Den Parteifunktionären fiel insbesondere die Distanzierung von der eigenen Agenda-Vergangenheit spürbar schwer. Zweitens verschwand Schulz während des äußerst wichtigen Landtagswahlkampfs in Nordrhein-Westfalen nahezu völlig von der Bildfläche. Der Schulz-Hype bekam mit der Landtagswahl im Saarland (26. März 2017) einen ersten Knacks - und mit dem Regierungsverlust in NRW (14. Mai 2017) war er dann faktisch schon vorbei. Er währte alles in allem gut zwei Monate. Mit dem bis dato schlechtesten Wahlergebnis seit 1949 mutierte Martin Schulz bei der Bundestagswahl (24. September 2017) zum vielfach verspotteten "Ikarus aus Würselen".



So weit, so folgerichtig. Doch wie man sieht, das Potenzial für die SPD war da, sie verstand es bloß nicht, den Schulz-Hype richtig zu nutzen, denn weder das Programm noch die Protagonisten waren glaubwürdig genug. Der Schulz-Effekt konnte das immerhin kurzzeitig in den Hintergrund drängen. Wären Schulz und seine Partei glaubwürdig gewesen, hätte die Bundestagswahl 2017 ganz anders ausgehen können. Hätte, hätte, Fahrradkette! Nach dem Debakel beging die SPD einen weiteren Kardinalfehler: Trotz gegenteiliger Bekundungen ("nie wieder GroKo") trat sie abermals in eine Regierung unter Angela Merkel ein. Der traurige Rest ist hinlänglich bekannt.

Ist das Potenzial für die SPD endgültig verloren? Vielleicht. Wenn die Sozialdemokraten jedoch wieder glaubhaft für mehr Gerechtigkeit eintreten sollten, ist ein Comeback keineswegs ausgeschlossen. Der gesellschaftliche Resonanzboden ist durchaus vorhanden. Stichworte: Wohnungsnot, die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich, die drohende Altersarmut, der ausufernde Niedriglohnsektor, Versöhnung von Ökonomie und Ökologie etc. Das wird der Partei freilich in der GroKo kaum gelingen, da sie dort mit der Union ständig Kompromisse schließen muss. Leider hinterlässt die SPD dabei den Eindruck, als ginge es ihr hauptsächlich um Posten und Pöstchen, sie zeigt in politischen Streitfragen wenig Standfestigkeit, von punktuellen Erfolgen kann sie daher viel zu selten profitieren.

Vorübergehend in die Opposition gehen und in den darauffolgenden Jahren die reine sozialdemokratische Lehre verkünden, täte der Partei gewiss gut. Zeit für die Erneuerung (die die SPD seit Jahren verspricht, aber nie umsetzt). Kommt es nach Neuwahlen zu einem Minderheitskabinett Kramp-Karrenbauer, zu Schwarz-Grün, Grün-Schwarz oder Jamaika, wäre das fast so wertvoll wie ein herausgeholter Elfmeter. Endlich die Möglichkeit, sich mit Alternativentwürfen und neuem Personalangebot zu profilieren. Leider hinterlässt der derzeit desolate Zustand der SPD den Eindruck, als könnte sie den Elfmeter sogar verschießen.

Die Sozialdemokraten haben nicht mehr allzu viel Zeit, es geht mittlerweile ans Eingemachte, die Existenz der Partei steht auf dem Spiel. Wie es scheint, haben das immer noch nicht alle begriffen. Ob die SPD allerdings, wie etwa Sigmar Gabriel anregt, mit einer härteren Migrationspolitik à la Mette Frederiksen Erfolg haben wird, ist zu bezweifeln. Ausgerechnet das notorisch sprunghafte Alphatier, das für den beklagenswerten Zustand der SPD ein gerüttelt Maß Verantwortung trägt, erteilt jetzt aus dem Off wohlfeile Ratschläge (Motto: von den dänischen Sozialdemokraten lernen, heißt siegen lernen).

Wie soll sich die SPD erneuern, wenn sie zugleich Horst Seehofer oder der AfD nacheifert? Und was ändert eine härtere Gangart in der Migrationspolitik an der fehlenden Gerechtigkeit? Schafft sie bezahlbaren Wohnraum? Nein, dieser Weg ist folglich ein Irrweg, die Sozialdemokraten würden sich vergaloppieren. Taumelt die SPD weiterhin orientierungslos dahin, wird sie vermutlich endgültig untergehen. Anstatt "Die Rettung der SPD" müsste die Überschrift dann in Anlehnung an den Youtuber Rezo "Die Zerstörung der SPD" lauten. Eine selbstverursachte Zerstörung, wohlgemerkt.