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12. Juni 2019, von Michael Schöfer
Unruhestifter und/oder Vordenker


Je größer eine Organisation, desto größer der Streit. Wo Menschen zusammenarbeiten menschelt es naturgemäß. Um Streit zu vermeiden und nach außen ein Bild der Geschlossenheit zu vermitteln, versucht man Kritik zu unterbinden. Oder zumindest nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Wenn das misslingt, werden Kritiker oft persönlich angegriffen.

Die Liste der Parteiausschlussverfahren von Prominenten ist erstaunlich lang, laut Wikipedia sind es zwischen 1949 und 2011 immerhin 53 gewesen. [1] Die meisten bemerkenswerterweise in der SPD. Mir persönlich ist noch der Parteiausschluss von Karl-Heinz Hansen in Erinnerung, der Anfang der achtziger Jahre ein bekannter Kritiker der Nachrüstungspolitik des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt gewesen ist. Hansen wurde am 20. Juli 1981 ausgeschlossen, weil er bei "einer Veranstaltung der Düsseldorfer Jungsozialisten im Mai 1981 (...) der SPD-geführten Bundesregierung in der 'Verteidigungspolitik eine Art Geheimdiplomatie gegen das eigene Volk' nachsagte". [2] Die SPD verlor seinerzeit wegen ihrer Sicherheits- und Umweltpolitik (Helmut Schmidt: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen") fast eine ganze Generation an die Grünen.

Heiner Geißler wurde zwar nie ausgeschlossen, bekam aber ebenfalls den geballten Unmut der Parteiorganisation zu spüren. Weil sich der damalige CDU-Generalsekretär 1989 gegen die Politik von Helmut Kohl wandte und dessen Ablösung als Parteivorsitzender betrieb, wurde er innerparteilich kaltgestellt. Fortan traute sich keiner mehr, dem Patriarchen in die Quere zu kommen. Genützt hat es allerdings wenig: Zehn Jahre danach musste die CDU in die Opposition, und die Partei wirkte durch Kohls quälend lange Regentschaft wie ausgezehrt. Augenfälliger Unterschied zur SPD: In der CDU werden Kritiker vorwiegend an den Rand gedrängt anstatt offiziell ausgeschlossen. Angela Merkel praktizierte diese Kunst fast in Vollendung, weshalb sie in den Medien auch gerne "Schwarze Witwe" genannt wurde: die männermordende Kanzlerin. Friedrich Merz, Roland Koch, Helmut Kohl, Edmund Stoiber, Wolfgang Schäuble, Norbert Röttgen - alle hätten auf die ein oder andere Weise ein garstig Lied davon singen können.

Anfangs gelten Kritiker nur als ein bisschen lästig, nicht selten mutieren sie aber mit der Zeit in den Augen der Führungsriege zu notorischen Unruhestiftern oder obskuren Querulanten, denen man parteischädigendes Verhalten unterstellt. In Sonntagsreden wird zwar das Grundgesetz gefeiert, doch wenn jemand den Artikel 5 (Meinungsfreiheit) allzu ernst nimmt, ist bei den Parteioberen die Feierlaune rasch verflogen. Sachkritik wird persönlich genommen. Läuft es gut, werden aus den Unruhestiftern später wundersamerweise Vordenker, auf die man dann sogar stolz ist. So erging es zum Beispiel Heiner Geißler. Meistens läuft es jedoch schlecht, weshalb die Parteien nach einiger Zeit personell und programmatisch ausgelaugt erscheinen. Unabhängige Köpfe neigen zum Widerspruch. Erstaunlich, nicht? Sind sie weg, bleiben allein die Konformisten zurück. Mit denen ist freilich nicht viel Staat zu machen.

Unweigerliche Folge für die CDU (vom desolaten Zustand der SPD ganz zu schweigen): Sie ist neuerdings permanent in der Defensive. In der Union wurden Themen, die die Gesellschaft bewegen, zu spät gesehen, räumt CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ein. Hat man die Themen, die die Gesellschaft bewegen, innerparteilich überhaupt ernsthaft diskutiert? Eher nicht. Kritik an der Kanzlerin wurde seit jeher im Keim erstickt. (Das Verhalten der Schwesterpartei CSU ist da kein Widerspruch.) Aber wo nicht offen diskutiert wird, kann natürlich auch nichts Neues wachsen. Die Ja-Sager garantieren die Macht, sind freilich ziemlich uninspiriert. Am Ende legt sich die alles betäubende Friedhofsruhe wie Mehltau über die gesamte Organisation. Gewiss, das geht eine Zeitlang gut - bis die Partei schlagartig in einem veränderten Umfeld aufwacht und sich verwundert die Augen reibt. Traditionelle Machtmechanismen verlieren ihre Wirkung, das Wahlvolk lässt sich dadurch immer weniger beeindrucken und bei der Stange halten. Bekommt die Partei nicht rechtzeitig die Kurve, kann das in einem Fiasko enden.

Zweifelsohne wird jeder Organisation ein Spagat abverlangt. Einerseits wird der Eindruck der Zerrissenheit in der Regel negativ bewertet. Andererseits muss man unbedingt den Eindruck vermeiden, man sei nur noch an der Macht als solcher interessiert. Wer nicht mehr erkennbar um Lösungen ringt, dem traut das Wahlvolk auch keine Lösung der Probleme zu. Den richtigen Mix hinzubekommen ist schwierig, weshalb es - siehe oben - leider allzu oft auf die üblichen Machtspielchen hinausläuft. Das ist einfacher. Die Quittung folgt jedoch auf dem Fuße: Noch während man sich auf der Höhe der Macht wähnt und für unbezwingbar hält, beginnt bereits der Abstieg. Und ist der Schneeball erst einmal ins Rollen gekommen, läuft das Ganze unweigerlich auf eine Lawine hinaus, die keiner mehr aufhalten kann. In den westlichen Industriestaaten (z.B. USA, Frankreich, Italien, Großbritannien) ist das politische Gefüge mittlerweile so labil, dass die klassischen Parteien in vielen Ländern nahezu komplett an den Rand gedrängt werden. Ähnliches droht Deutschland, wenn es das Establishment versäumt, klug zu handeln. Bedauerlicherweise sieht es nicht danach aus, als habe man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt.

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[1] Wikipedia, Parteiausschluss
[2] Wikipedia, Karl-Heinz Hansen