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20. Juli 2019, von Michael Schöfer
Sachsens CDU will mehr Demokratie wagen


Es ist manchmal wirklich kurios: Da setzt man sich als Linksliberaler sein halbes Leben lang für mehr direkte Demokratie ein - und nun greift ausgerechnet die konservative sächsische CDU diese Forderung auf und will sie realisieren. Und das auch noch aus Angst vor der rechtspopulistischen AfD. Im Wahlprogramm der CDU für die sächsische Landtagswahl steht nämlich: "Wir setzen uns für eine Verfassungsänderung ein, welche die im Freistaat Sachsen verfügbare Volksgesetzgebung durch einen Volkseinwand gegen vom Landtag beschlossene Gesetze ergänzt. Die Bürgerinnen und Bürger sollten das letzte Wort haben können." [1]

Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) schreibt dazu: "Bürgerinnen und Bürger sollen nicht nur am Wahlsonntag verbindliche Entscheidungen treffen, sondern auch bei Gesetzen das letzte Wort haben. Sie sollen die Möglichkeit haben, nachdem eine bestimmte Zahl von Unterschriften gesammelt ist, über vom Landtag erlassene Gesetze noch einmal abstimmen zu können."

Und wie soll das Ganze funktionieren? "Die Landesregierung beziehungsweise die Landtagsfraktionen erarbeiten einen Gesetzesentwurf. Der Landtag beschließt das Gesetz. Jetzt ist das Volk am Zug. Innerhalb einer festgelegten Frist haben die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, Unterschriften gegen das vom Parlament beschlossene Gesetz zu sammeln. Liegt eine bestimmte Anzahl an Unterschriften vor, so wird allen Wahlberechtigten die Frage gestellt, ob das Gesetz wirklich in Kraft treten soll. Als nötige Unterschriftenzahl lässt sich dafür etwa eine Hürde von fünf Prozent der Wahlberechtigten vorsehen, als Frist für die Unterschriftensammlung hundert Tage. Kommen innerhalb dieses Zeitraums genügend Unterschriften zusammen, so wird das Gesetz einer Volksabstimmung unterzogen. Bei der zählt die einfache Mehrheit der gültigen Ja- oder Nein-Stimmen. Wird das Gesetz von der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger abgelehnt, so hat das Volk sein Veto eingelegt und das Gesetz dem Landtag erneut zur Beratung zurücküberwiesen. Der Landtag kann jedoch mit absoluter Mehrheit ein Gesetz für so dringlich erklären, dass es ohne Wartezeit für die Unterschriftensammlung in Kraft tritt, wie zum Beispiel Gesetze, die an Umsetzungsfristen gebunden sind, oder Staatsverträge mit anderen Ländern. Zweitens sollte gegen das Haushaltsgesetz kein Volkseinwand möglich sein, weil dieses die Politik nicht punktuell, sondern umfassend gestaltet. Also muss es allein vom Parlament und von den regierungstragenden Parteien verantwortet werden." [2]

Die Bürgerinnen und Bürger können folglich demnächst, falls das Vorhaben tatsächlich verwirklicht wird, vergleichsweise leicht Gesetze verhindern. Die sächsische Landesverfassung sieht in den Artikeln 70 bis 73 zwar schon jetzt einen Volksantrag vor, der zu einem Volksentscheid führen kann, aber die Hürden sind so hoch, dass es bislang erst zu einem einzigen Volksentscheid kam. [3] Gesetze zu initiieren ist somit ungleich schwerer.

Auf Bundesebene gab es dergleichen noch nie (weder initiieren noch verhindern), was in erster Linie an den keineswegs unbegründeten Bedenken gegen die volle direkte Demokratie liegt. Klar, so ein sensibles Instrument will geübt werden. Und das möglichst ohne beim notwendigen Lernprozess Katastrophen zu erzeugen. Genau das war 1983 mein Grundgedanke, als ich geschrieben habe: "Der Haupteinwand gegen direkte Demokratie ist, daß die Bürger noch nicht reif für die direkte Demokratie wären, daß durch Volksabstimmungen Emotionen viel stärkeren Einfluß auf die Politik nehmen würden. Die repräsentative Form der Demokratie wird hier als Regulativ angesehen, sie soll 'Sportpalastentscheidungen' vermeiden. (…) Direkte Demokratie bringt zwar mehr Einfluß des Bürgers auf konkrete Einzelentscheidungen, könnte aber auch zu fragwürdigen Entscheidungen (Einführungen der Todesstrafe, verschärfte Asylgesetzgebung, Radikalenerlaß, Terrorgesetze u.a.) führen. Für jeden Befürworter der direkten Demokratie muß das ein ernsthafter Einwand sein, ist er doch sicherlich mehr an rationalen und weniger an emotionalen Entscheidungen interessiert." Ich befürwortete damals den "eingeschränkten Volksentscheid", der wie folgt aussehen sollte: "Nach Einführung des eingeschränkten Volksentscheids würden Gesetze erst dann in Kraft treten, wenn nach Verabschiedung der Gesetzesvorlage im Bundestag innerhalb einer bestimmten Frist seitens der Bevölkerung kein Einspruch vorliegt. Erst nach dieser Einspruchsfrist (beispielsweise 3 Monate) dürfte das Gesetz an den Bundesrat (sofern notwendig) und den Bundespräsidenten weitergeleitet werden. Ein Einspruch würde dann vorliegen, wenn innerhalb der festgesetzten Frist eine bestimmte Anzahl von Unterschriften gesammelt wurde." [4] Das entspricht im Wesentlichen den nun vorgelegten Absichten der sächsischen CDU.

In der Frankfurter Rundschau stand kürzlich sogar ein von mir ausformulierter Vorschlag zur Änderung unseres Grundgesetzes: "Bundes- und Landesgesetze können vom Volk aufgehoben werden, wenn eine Million Wahlberechtigte innerhalb von zwölf Monaten nach deren Beschluss eine Volksabstimmung beantragen und sich in dieser bei einer Wahlbeteiligung von mindestens 60 Prozent der Wahlberechtigten die Mehrheit der Abstimmenden für die Aufhebung entscheidet." [5] Über die Fristen, die Anzahl der Unterschriften und das Quorum bei der Abstimmung kann man natürlich streiten. Über die Richtung, in die solche Vorschläge zielen, nicht. Plebiszitäre Elemente auf Bundesebene sind meiner Auffassung nach unerlässlich.

Ist ein Vorschlag schlecht, wenn er vom politischen Gegner aufgegriffen wird? Selbstverständlich nicht. Und er ist es ebenso wenig, wenn er neuerdings von der falschen Seite aufgegriffen wird, denn auch die AfD fordert mehr direkte Demokratie (doch vermutlich mit anderen Absichten). "Immer mehr gesellschaftliche Kräfte unterstützen die AfD-Forderung nach direkter Demokratie", schreibt der finanzpolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Sächsischen Landtag, André Barth. [6] Entsprechende Forderungen der AfD gibt es auch im Deutschen Bundestag, sie scheiterte dort jedoch mit einem Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission "Direkte Demokratie auf Bundesebene". Übrigens genauso wie ein Gesetzentwurf der Partei Die Linke.

Ich lege Wert auf die Feststellung, dass die Forderung nach mehr direkter Demokratie ursprünglich aus der linken Ecke des politischen Spektrums kommt und kein Projekt konservativer oder rechter Parteien war. So enthielt bereits das allererste Grundsatzprogramm der Grünen aus dem Jahr 1980 die Forderung: "Volksbegehren und Volksentscheid zur Stärkung der direkten Demokratie." [7] "Wir wollen nicht beim Status quo stehen bleiben, sondern die Demokratie weiterentwickeln zu einer vielfältigen Demokratie mit direkten Beteiligungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger", steht auch im aktuellen Grundsatzprogrammen der Ökopartei. "Ergänzend zur parlamentarischen Demokratie wollen wir die direkte Demokratie, von der kommunalen bis zur Bundesebene, ausbauen." [8] Die Forderung nach mehr direkter Demokratie fand sich außerdem schon im SPD-Bundestagswahlprogramm 1998: "Wir wollen auf Bundesebene die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid." [9] Wahr ist aber auch, dass dieses Ansinnen bislang mangels parlamentarischer Mehrheiten noch nie realisiert wurde. Die CDU war stets dagegen. Aus nicht ganz uneigennützigen Motiven, wie man unterstellen darf. Durch die Initiative der sächsischen CDU könnte sich die Haltung der Bundespartei vielleicht ändern.

Norbert Frei schreibt in der Süddeutschen regelmäßig Kolumnen und ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er kritisiert die Absicht der sächsischen CDU und spricht im Zusammenhang mit der Forderung nach mehr direkter Demokratie abwertend von "Verschweizerung der Bundesrepublik". In Ostdeutschland werde der "Volkswille" glorifiziert und der Vorschlag Kretschmers sei eine "defätistische Idee". [10] Als ob die Schweiz diesbezüglich ein Negativvorbild wäre. Das Gegenteil ist richtig, in der Schweiz funktioniert die direkte Demokratie ganz vorzüglich - und das immerhin schon seit 1848. Die Kompetenzen, die das Volk dort hat, sind weitreichend. Viel weitreichender als beim von der sächsischen CDU angestrebten "Volkseinwand" und dem bereits existierenden "Volksantrag".

Der Unmut über die Mängel der repräsentativen Demokratie ist zudem, anders als Norbert Frei suggeriert, keineswegs auf Ostdeutschland beschränkt. Wie oft wurden von Parlamenten Gesetze beschlossen, die in einer Volksabstimmung wahrscheinlich durchgefallen wären? Ziemlich oft, zum Beispiel als es um die Nato-Nachrüstung, um Atomkraftwerke und Atommülllager oder die Agenda 2010 ging. Ein aufschlussreiches Beispiel: Die Schweiz sucht momentan genauso wie Deutschland nach einem Standort für ein Atommüll-Endlager. In Deutschland entscheiden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die Bürgerinnen und Bürger werden lediglich in Regionalkonferenzen angehört. In der Schweiz hingegen entscheidet zunächst der Bundesrat (die Regierung), allerdings untersteht der Entscheid des Bundesrates wie dort seit langem üblich dem fakultativen Referendum. Die Schweizer treffen somit, sofern sie das beantragen, die endgültige Entscheidung. In Deutschland kann die Bevölkerung nur hoffen, dass ihre Wünsche von den Abgeordneten berücksichtigt werden. Entscheiden dürfen die Bürgerinnen und Bürger nichts. Ein fundamentaler qualitativer Unterschied.

Die Klage über die Volksferne des Establishments ist durchaus berechtigt, wie gerade eben erst die Inthronisation von Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin gezeigt hat. Da wird plötzlich jemand aus dem Hut gezaubert, der vorher überhaupt nicht zur Debatte stand. Galionsfiguren für die vermeintliche "Schicksalswahl" am 26. Mai 2019 waren bekanntlich die Spitzenkandidaten der Europawahl: Manfred Weber (Christdemokraten), Frans Timmermans (Sozialdemokrten), Margrethe Vestager (Liberale), Jan Zahradil (Konservative), Ska Keller und Bas Eickhout (Grüne), Violeta Tomič und Nico Cué (Linke) sowie Oriol Junqueras (Freie Allianz). Ursula von der Leyen? Von der ahnte - außerhalb eingeweihter Kreise - niemand etwas, mit dem Spitzenkandidatenprinzip wurde vielmehr ein völlig anderer Eindruck erweckt: "Ich würde mich freuen, wenn ich der Bundeswehr über das Jahr 2017 hinaus dienen darf", sagte von der Leyen im Herbst 2016. [11] Und: "Mein Platz ist im Bendlerblock." [12] Alles Schnee von gestern, doch das Wahlvolk soll die Entscheidung widerspruchslos schlucken. 200 Mio. wählen - und den 28 Staats- und Regierungschefs ist das vollkommen gleichgültig. Sie entscheiden, wie es ihnen am besten in den Kram passt. "Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verlangt, daß für den Wähler die Wirkungen seiner Stimmabgabe erkennbar sind", fordert das Bundesverfassungsgericht [13] So gesehen war die Europawahl eine Farce, das ist die bittere Realität in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts.

Das ist keine Demokratie (altgriechisch: Herrschaft des Staatsvolkes), sondern faktisch die Herrschaft des Establishments. Was das Volk will, ist letztlich zweitrangig. Nicht ohne Grund hat sich gegen diese falsch verstandene Form von Demokratie massiver Unmut aufgestaut. Und man rettet die Demokratie nicht, indem man an der Abgehobenheit des Establishments hartnäckig festhält, weil das letztlich in die generelle Abkehr der Menschen von der Demokratie münden könnte. Die direkte Demokratie ist demzufolge notwendig und entspricht sogar dem ursprünglichen Grundgedanken der Demokratie (der unmittelbaren Beteiligung jedes Einzelnen an politischen Entscheidungen). Im klassischen Griechenland konnten die Bürger in einer Volksversammlung (Ekklesia) abstimmen und besaßen dort gleiches Rederecht, obwohl die Teilnahmeberechtigung, der damaligen Tradition geschuldet, auf Vollbürger begrenzt blieb, was Frauen, stadtfremde Einwohner ohne Bürgerrechte und Sklaven ausschloss. In der Schweiz wird diese Form der direkten Demokratie hie und da noch auf lokaler Ebene praktiziert. Im Kanton Glarus ist die "Landsgemeinde" bis heute die gesetzgebende Versammlung, die nicht nur über Gesetzes- und Verfassungsänderungen sowie über die Höhe des Steuersatzes berät und abstimmt, sondern auch die kantonalen Richter und den Präsidenten der Kantonsregierung wählt (den Landammann).

Gewiss, eine industrielle Massengesellschaft mit 83 Mio. Einwohnern lässt sich nicht durch Volksversammlungen steuern, Parlamente verlieren daher keineswegs ihren Sinn und ihre Berechtigung. Allerdings muss der Verselbständigung der Parteien und der von ihnen im Voraus ausgewählten Abgeordneten entgegengewirkt werden. Wenn die Informationen in Wikipedia korrekt sind, zog hierzulande letztmals 1949 ein parteiloser Abgeordneter ohne jegliche Unterstützung einer Partei in den Deutschen Bundestag ein, und zwar der umstrittene Vertriebenenpolitiker Franz Ott. Für eine Demokratie ein Armutszeugnis. Dieser Umstand zeigt, dass die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes nicht bloß mitwirken (Artikel 21 Grundgesetz), sondern diese an sich gerissen haben und nahezu uneingeschränkt dominieren. Gegen Parlamentsbeschlüsse können Bürgerinnen und Bürger im Grunde nur protestieren oder vor Gericht klagen - was in den meisten Fällen ein aussichtsloses Unterfangen ist. Genau das gehört geändert, schließlich geht laut Grundgesetz "alle Staatsgewalt vom Volke aus". (Artikel 20 Grundgesetz)

Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker kritisierte die Parteien hart: "Sie seien machtversessen und machtvergessen zugleich. (…) Sie hätten ihren Einfluß weit über das Maß hinaus ausgedehnt, das der Artikel 21 des Grundgesetzes ihnen einräume." Und: "Ihre Utopie sei der Status quo, ein Leben auf Kosten der Zukunft, um sich die Gegenwart zu erleichtern. Außerdem hätten sie die Kontrolle der Exekutive durch das Parlament außer Kraft gesetzt, der Gedanke, eine solche Kontrolle fände statt, sei geradezu herzbewegend." [14] Doch was hat sich daran seit 1992 geändert? Kurz gesagt: nichts! Und ein Vorschlag, diese fatale Entwicklung zu korrigieren, wird in keinster Weise dadurch entwertet, dass er auch von der AfD propagiert wird, wenngleich die Rechtspopulisten dabei fremdenfeindliche Hintergedanken haben dürften. Falls die sächsische CDU ihr Vorhaben wirklich ernst meint, sollte es Unterstützung finden und Wirkung weit über das Bundesland hinaus entfalten.

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[1] CDU Sachsen, Regierungsprogramm Sachsen 2019 - 2024, Seite 69, PDF-Datei mit 2,7 MB
[2] Die Zeit-Online vom 27.06.2019
[3] Landtag Sachsen, PDF-Datei mit 7 MB
[5] Frankfurter Rundschau vom 13.05.2019, Printausgabe, Seite 2
[7] Heinrich Böll Stiftung, Programmtexte Bündnis 90/Die Grünen, Bundesprogramm Die Grünen 1980, Seite 29, PDF-Datei mit 8,5 MB
[8] Bündnis 90/Die Grünen, Grundsatzprogramm 2002, Seite 13 und Seite 129, PDF-Datei mit 604 KB
[9] SPD, SPD-Programm für die Bundestagswahl 1998, Seite 39, PDF-Datei mit 419 KB
[10] Süddeutsche Zeitung vom 18.07.2019
[11] MOZ.de vom 17.10.2016
[12] n-tv vom 10.09.2016
[13] Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26.02.1998 - 2 BvC 28/96
[14] Die Zeit-Online vom 10.07.1992