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17. August 2019, von Michael Schöfer
Das Völkerrecht verlottert zusehends


Der Grundgedanke des kodifizierten Rechts ist, auf Willkür beruhende Urteile abzuschaffen und Rechtssicherheit zu garantieren. Strafbar ist nur das, was ausdrücklich verboten ist. Es gilt folglich: Keine Strafe ohne Gesetz. Auf internationaler Ebene übernimmt das Völkerrecht diese Ordnungsfunktion. Doch diese Rechtsordnung verlottert zusehends, und daran sind nicht bloß Länder wie Russland oder China schuld, sondern bedauerlicherweise auch der Westen.

Nehmen wir als Beispiel die Posse um den Öltanker "Grace 1". Der Tanker wurde am 4. Juli 2019 vor Gibraltar von britischen Truppen geentert und beschlagnahmt. Doch die Begründungen, warum das mit iranischem Öl beladene Schiff festgehalten wird, wechselten je nach Bedarf.

"Wie die britische Regierung mitteilt, stoppten diese einen Tanker, der auf dem Weg nach Syrien gewesen sein soll. EU-Sanktionen verbieten jedoch solche Lieferungen an das Assad-Regime", las man zunächst. [1] Im Nachgang setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass die EU-Sanktionen zwar Öllieferungen "aus" Syrien verbieten, aber keineswegs Öllieferungen "nach" Syrien. Rechtsgrundsatz: Keine Strafe ohne Gesetz! Außerdem gilt auch vor Gibraltar das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, das insbesondere in Meerengen allen Handelsschiffen die freie Durchfahrt garantiert. Sogar durch das Hoheitsgebiet in den Küstengewässern. Großbritannien ist dem Seerechtsübereinkommen 1997 beigetreten, es ist daher auch für London bindend.

Anschließend wechselte man flugs die Begründung: "Als Rechtsgrundlage für die Anhaltung der Grace 1 diente (...) eine Anlassverordnung des Gouverneurs von Gibraltar: Die Fracht der Grace 1 sollte demnach an die Banias Refinery Company gehen, die auf der EU-Sanktionsliste aufscheint. Damit wäre die Lieferung, die durch britische Hoheitsgewässer ging, nicht zulässig. (…) Interessant ist, dass laut 'The Syria Report' Gibraltar nur einen Tag zuvor, am 3. Juli, seine eigenen einschlägigen Verordnungen abgeändert hatte, die ihm am 4. Juli erlaubten, die Grace 1 zu stoppen: Demnach können Schiffe beschlagnahmt werden, die EU-Sanktionen brechen." [2] Der Syria Report ist ein in Beirut (Libanon) beheimatetes Wirtschaftsblatt, es ist regierungsunabhängig und der Herausgeber, Jihad Yazigi, Sohn eines im Exil lebenden syrischen Dissidenten.

Kann Gibraltar durch eine Verordnung das Völkerrecht aushebeln? Das wäre eine ziemlich steile These, deren Gültigkeit sich erst noch vor Gericht als haltbar erweisen müsste. "Gibraltar ist ein Überseeterritorium des Vereinigten Königreichs. Es hat eine eigene Regierung, die die Aufgaben der Selbstverwaltung erfüllt. Sie umfasst alle Bereiche außer Verteidigung, Außenpolitik und innere Sicherheit, die vom Vereinigten Königreich übernommen werden. Staatsoberhaupt ist die britische Königin; sie wird in Gibraltar durch einen Gouverneur repräsentiert. Der Gouverneur ist gleichzeitig der Oberbefehlshaber der Armee und der Polizei", erläutert Wikipedia. [3] Völkerrechtssubjekt ist Gibraltar jedenfalls keines.

Obendrein sind EU-Sanktionen nur für EU-Mitglieder gültig und erstrecken sich naturgemäß nicht auf Drittstaaten. Muss sich der Iran an EU-Sanktionen halten? Natürlich nicht, umgekehrt muss ja auch die EU keine iranischen Sanktionen beachten. Man stelle sich bloß einmal vor, der Iran würde angesichts der Kaperung des Öltankers jeglichen Handel mit Großbritannien verbieten. Unterbänden die übrigen EU-Mitgliedstaaten daraufhin den Warenverkehr mit der Insel? Wohl kaum, Jean-Claude Juncker würde allenfalls in Teheran irritiert anfragen, welches Kraut sie dort geraucht hätten. International verbindliche, von allen Staaten zu befolgende Sanktionen bedürfen bekanntlich einem Beschluss des UN-Sicherheitsrates, genau der fehlt aber hinsichtlich von Wirtschaftssanktionen mit Bezug auf Syrien.

Nachdem das oberste Gericht des britischen Überseegebiets Gibraltar die "Grace 1" freigegeben hat, ordnete nun ein Bundesgericht in Washington die Beschlagnahmung des Tankers an. Begründung: "Illegale Unterstützung von Lieferungen an Syrien durch das Schiff. Die Lieferungen würden von den iranischen Revolutionsgarden organisiert, die in den USA als 'Terrororganisation' eingestuft werden." [4] Es wird immer skurriler: Erstens müssen auch die USA das Völkerrecht beachten, und zweitens erstreckt sich die Reichweite des US-Rechts lediglich auf das Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten. Dass Anordnungen eines amerikanischen Bundesgerichts von den britischen Behörden befolgt werden müssten, wäre neu und mit weitreichenden Folgen verbunden.

Halten wir fest: Zuerst hieß es, Öllieferungen nach Syrien würden gegen EU-Sanktionen verstoßen. Dann diente der Empfänger als Rechtsgrundlage, an den das iranische Öl angeblich geliefert werden sollte. Als sich diese Rechtsauslegung ebenfalls als haltlos erwies, kommt nun plötzlich der mutmaßliche Auftraggeber ins Spiel. Das riecht nicht nur nach Willkür, das ist Willkür. Motto: Irgendeine Begründung werden wir schon finden - und sei sie auch noch so an den Haaren herbeigezogen. Spitzfindige Juristen gibt es schließlich bei uns mehr als genug.

Wie will man undemokratische Regierungen, wie etwa die in Teheran, dazu ermutigen, sich ans Völkerrecht zu halten, wenn man es anscheinend selbst nach Gutdünken auslegt und dadurch missachtet? Der Westen wirft Russland zu Recht vor, die Krim völkerrechtswidrig annektiert zu haben. Und die chinesischen Ansprüche im Südchinesischen Meer hat sogar bereits ein Schiedsgericht in Den Haag als eindeutig völkerrechtswidrig bezeichnet. Das Schiedsgericht stützte sich in seinem Urteil, man höre und staune, auf das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen. Das US-Außenministerium begrüßte seinerzeit die Entscheidung. Schizophren: Der Westen besteht im Südchinesischen Meer auf Einhaltung der Regeln des Völkerrechts, das er wiederum vor Gibraltar selbst negiert. Der Handel über die Weltmeere erfordere sichere Seewege, heißt es allenthalben, und dafür müsse Europa Verantwortung zeigen. Ob es so gesehen klug ist, das Völkerrecht verlottern zu lassen, darf bezweifelt werden.

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[1] n-tv vom 04.07.2019
[2] Der Standard vom 21.07.2019
[3] Wikipedia, Gibraltar
[4] ZDF-heute vom 17.08.2019