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21. August 2019, von Michael Schöfer
Das nukleare Damoklesschwert


Russlands Kritik an der Nato-Osterweiterung wurde vom Westen stets als irrelevant abgetan, obgleich man seinerzeit der Sowjetunion das Gegenteil versprochen hatte. [1] Heute steht die Nato viel weiter östlich und wird von Russland, ob zu Recht oder zu Unrecht sei dahingestellt, als Bedrohung empfunden. Moskaus Bedrohungsgefühle seien vollkommen unbegründet, weil die Nato selbstverständlich nur friedliche Absichten habe und sich immer an Abrüstungs- bzw. Rüstungskontrollverträge halten würde. Im Westen ist das die vorherrschende und von den Medien verbreitete Sichtweise.

Allerdings gibt es neuerdings berechtigte Zweifel an der Vertragstreue der Nato respektive der Vereinigten Staaten. Dass die westliche Führungsmacht gerade einmal zwei Wochen nach Ende des INF-Vertrags bereits eine landgestützte Mittelstreckenrakete getestet hat, obgleich das erst am 2. August 2019 offiziell für beendet erklärte Abkommen die Produktion solcher Waffen untersagte, ist entlarvend. Normalerweise dauert die Entwicklung neuer Waffen mehrere Jahre. Der Verdacht, es sei schon heimlich an Mittelstreckenraketen gebastelt worden, als es der INF-Vertrag noch verbot, ist nicht von der Hand zu weisen. Doch das ist die harmlosere Version.

Denn wenn stimmt, was der österreichische Standard berichtet, ist die Sache noch viel schlimmer: "Seit 2016 errichten die USA in mehreren Partnerstaaten Raketenabwehrsysteme. Die 'Aegis Ashore'-Anlage in Rumänien, aus der Patriot-Abwehrraketen verschossen werden können, ist einsatzbereit, der Standort in Polen soll 2020 in Betrieb gehen, der in Japan dann im Jahr 2023. Gegenüber Bedenken Russlands, dass die 'Mark 41'-Startanlagen auch für Angriffe geeignet seien, weil sie auch Tomahawk-Marschflugkörper verschießen könnten, hatte das US-Militär stets argumentiert, dass es sich um völlig verschiedene Systeme handle und die Anlagen in Osteuropa lediglich gegen die Bedrohung des Kontinents durch iranische Raketen gerichtet seien." [2] Gegen Raketen aus dem Iran müssten wir uns schließlich wehren können.

"Die russische Haltung sei nichts mehr als Propaganda", behauptete der Verteidigungsexperte Gustav Gressel. [3] "Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein", beruhigte der ehemalige stellvertretende US-Außenminister Frank Rose die Öffentlichkeit. [4] "Nach Darstellung der USA wurden diese Raketenabschussrampen nie für so etwas getestet und grundsätzlich nicht dafür gemacht, nukleare Mittelstreckenraketen abzufeuern." [5] Eindeutiger kann man kaum dementieren ("grundsätzlich nicht dafür gemacht" als Synonym für "technisch unmöglich"), daher war bei uns auch das die vorherrschende Sichtweise. Bedenken Russlands? Wie gehabt: vollkommen unbegründet. Anders ausgedrückt: Wir sind die Guten.

Offenbar alles gelogen. "Da haben wir euch aber schön verarscht", müssten jetzt die Medien, Verteidigungsexperten und Politiker ausrufen. Zumindest wenn sie ehrlich wären. Denn so wie es aussieht, traf die Kritik Russlands zu. Keine Propaganda also, sondern die volle Wahrheit. Beim Test des landgestützten Marschflugkörpers am 18. August 2019 haben die Amerikaner nämlich just "die Mark-41-Senkrechtstartanlage zum Abschuss verwendet, die auch in Rumänien installiert wurde." [6] Die Russen hatten recht, die Raketenabwehrbasis in Rumänien und demnächst die in Polen sind tatsächlich in der Lage, Angriffswaffen abzufeuern. Angriffswaffen, die innerhalb von knapp zwei Stunden die russische Hauptstadt erreichen können. [7] Marschflugkörper sind zudem wegen ihrer niedrigen Flughöhe schwer zu entdecken.

Angesichts dessen ist die Gefahr eines Nuklearkriegs aus Versehen wieder enorm gestiegen, die scheinbar stabile Sicherheitszone Europa ist unvermittelt zur instabilen Unsicherheitszone mutiert. Die hiesige Sprachregelung hat sich endgültig als das herausgestellt, was kritische Beobachter schon lange vermuteten: als reine Propaganda. Wer auch den letzten Rest an Vertrauen verspielen wollte, hat gründliche Arbeit geleistet. Und wohlgemerkt: Donald Trump setzt diesbezüglich bloß die Politik seiner Vorgänger fort.

Kein Zweifel: Die russische Streitkräftemodernisierung, die Stationierung des mutmaßlich INF-widrigen SSC-8-Marschflugkörpers und die Annexion der Krim lassen westliche Vorbehalte gegenüber Russland als mindestens genauso gerechtfertigt erscheinen. Reimt sich sogar: Entpuppt sich der Westen als durchtriebener Bengel, macht das aus den Russen dennoch keine Engel. Nichtsdestotrotz ist die wechselseitige Zerstörung des Vertrauens brandgefährlich. Der New-Start-Vertrag ist momentan das einzige Rüstungskontrollabkommen, das noch in Kraft ist. Aber der Vertrag, der für die strategischen Atomwaffen der USA und Russlands Höchstgrenzen festlegt, läuft im Jahr 2021 aus. Verlängerung ungewiss. Läuft er wirklich ersatzlos aus, würde es erstmals seit 1972 kein gültiges Rüstungskontrollabkommen mehr geben. In einer Phase, in der auf dem Globus die Konflikte zunehmen, der helle Wahnsinn. Das nukleare Damoklesschwert, das über der Menschheit schwebt, lässt uns wieder besorgt nach oben blicken.

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[2] Der Standard vom 20.08.2019
[3] Deutsche Welle vom 13.05.2016
[4] RP-Online vom 12.05.2016
[5] tagesschau.de vom 01.02.2019
[6] Der Standard a.a.O.
[7] Entfernung Deveselu/Rumänien - Moskau/Russland: 1.603,37 km Luftlinie; Entfernung Redzikowo/Polen - Moskau/Russland: 1.307,10 km Luftlinie; Geschwindigkeit Tomahawk-Marschflugkörper: 878 km/h