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| Impressum 08. September 2019, von Michael Schöfer Wacht endlich auf Momentan wird viel darüber geschrieben, welcher Gefahr sich die Demokratie ausgesetzt sieht. Und kein Zweifel, sie droht in der Tat in chaotische Zustände abzugleiten. Die USA werden von einem notorischen Lügner regiert, der ohne durchdachtes Konzept Politik betreibt. Ein Narzisst mit dem Intellekt eines Kindes. In Großbritannien wiederum pflügt gerade ein Premierminister die politische Landschaft um, der offenbar bereit ist, seine Vorstellungen rücksichtslos durchzusetzen. Machiavelli hätte vielleicht klüger taktiert, doch die Grundrichtung ist die gleiche. Allerdings scheinen die Institutionen vor allem in Großbritannien noch zu funktionieren. Der geplanten Entmachtung des Parlaments sind die Anhänger der Demokratie im Eilbeschluss mit dem No-Deal-Gesetz entgegengetreten. Sollte es Boris Johnson missachten, droht ihm womöglich sogar eine Haftstrafe. Der despotische Premier hat im Parlament keine Mehrheit mehr und musste sich gezwungenermaßen den Volksvertretern beugen. Klassisch ausgekontert, würde man im Fußball dazu sagen. Alle Achtung: vier Abstimmungsniederlagen in eineinhalb Monaten. Die Demokratie hat - vorerst - gewonnen. Aber sie ist nicht aus dem Schneider. Es wirkt chaotisch, und es ist chaotisch. Eine Tragödie à la Shakespeare. Die Sorgen sind durchaus berechtigt. Doch man kann es, trotz der schrecklichen Unbill, die auf uns zuzukommen scheint, auch ein bisschen positiv sehen. In all der Dunkelheit zumindest ein Fünkchen Hoffnung. In der Türkei und in Russland wäre nämlich so etwas undenkbar, weil es in den dortigen Institutionen fast ausschließlich willige Mitläufer und keinen Widerstand mehr gibt. Erdogan treibt die Türkei in den Untergang - und kein Parlament fällt ihm in den Arm. Wladimir Putin lässt Demonstranten niederknüppeln und manipuliert die Regionalwahlen ganz nach eigenem Gusto. Das ist derzeit in Großbritannien zum Glück noch undenkbar. Die Betonung liegt freilich auf "noch". Selbstverständlich darf man die Situation nicht verharmlosen und die Gefahr für die Demokratie in Abrede stellen. Boris Johnson wird sich gewiss als Volkstribun inszenieren, um bei Neuwahlen die absolute Mehrheit zu erringen. Bekommt er die, und das britische Mehrheitswahlrecht begünstigt ihn dabei, wird es eng. Die Briten werden dann die Konsequenzen ihrer Wahlentscheidung rasch am eigenen Leib zu spüren bekommen - egal wie die im Einzelfall aussehen mögen (die Ansichten darüber gehen auseinander). Noch gibt es eine Chance, Boris Johnson zu stoppen. Vielleicht die allerletzte. Das Parlament könnte ihm etwa das Misstrauen aussprechen und einen Übergangspremier vorschlagen. Der ungeschriebenen britischen Verfassung zufolge entlässt und ernennt die Königin den Regierungschef. Johnson könnte ähnlich düpiert im Abseits landen wie vor kurzem Salvini in Italien. Auch der hat sich bekanntlich mächtig verkalkuliert. Das Volk muss bei alldem natürlich mitspielen. Und genau da liegt der Hund begraben, denn in Großbritannien ist wie andernorts die Enttäuschung über die bisherige Politik riesengroß. Seit Jahrzehnten werden vor allem Partikularinteressen gefördert, während die Mittelschicht, das traditionelle Rückgrat der Demokratie, sukzessive erodiert. Man könnte es etwas plump auf den Satz reduzieren: Die Reichen wurden reicher und die Armen ärmer, während die Anzahl der Menschen dazwischen beständig schrumpfte. Eine unvorhergesehene Folge war das Ergebnis des EU-Referendums 2016. Seitdem müssten eigentlich alle Alarmglocken schrillen, doch bedauerlicherweise ist das Establishment offenbar taub. Was bessert sich? Nicht allzu viel, vorherrschend ist eine Politik, die einfach weitermacht wie bisher. Aber das ist eine bodenlose Dummheit, die sich bitter rächen wird. Kurioserweise sind die Hardliner um Boris Johnson vermutlich die Letzten, die sich für eine sozialere Gesellschaft stark machen. Jacob Rees-Mogg beispielsweise, der blasiert wirkende Brexitieer, ist Multimillionär und hat eine Ausbildung am Eton College und am Trinity College der Universität Oxford genossen. Mehr Establishment geht kaum. Johnson selbst war ebenfalls Schüler am Eton College und auch er studierte in Oxford. Johnson gilt als vermögend, allein für seine wöchentliche Kolumne beim "Daily Telegraph" hat er pro Jahr 275.000 Pfund bekommen. Was ist von ihm zu erwarten? Steuersenkungen für die Reichen und die Unternehmen natürlich. Und wir wissen ja aus Erfahrung, wer dafür am Ende die Zeche zahlt. Jedenfalls nicht die mit einem hochherrschaftlichen Landhaus in der Grafschaft Somerset. Die Wähler müssen zur Vernunft kommen und Radikalen vom Schlage Johnsons die Stimme verweigern. Übrigens nicht bloß in Großbritannien. Auf der anderen Seite müssen die etablierten Volksvertreter vom zerstörerischen Kurs der sozialen Spaltung ablassen. Wer ständig Partikularinteressen fördert, braucht sich über die Verdrossenheit und Wut der Menschen nicht zu wundern. Die Probleme benennen, aber nichts dagegen tun, reicht keinesfalls aus. Dieser Kurs bringt früher oder später Politiker wie Trump, Johnson, Salvini oder Le Pen an die Macht. Von Figuren wie Kalbitz oder Höcke ganz zu schweigen. Wacht endlich auf. Oder wir landen eines schlimmen Tages wirklich im Abgrund. |