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13. September 2019, von Michael Schöfer
Warten auf den großen Knall


Die EZB hat erwartungsgemäß ihren Kurs des billigen Geldes verschärft, sie will demnächst wieder Anleihen aufkaufen und erhöht den Strafzins für Banken, die ihr Geld bei der EZB parken. Das erklärte Ziel: Die Banken sollen die Einlagen als Kredite an Unternehmen weiterreichen und die wiederum mit Investitionen die Konjunktur anheizen. Doch ich fürchte, da hat die EZB etwas falsch analysiert.

Der Siemens-Konzern warf Ende August Unternehmensanleihen mit unterschiedlichen Laufzeiten in Höhe von 3,5 Mrd. Euro auf den Markt und erzielte dabei sogar einen Gewinn, denn die zweijährige Anleihe brachte einen Minuszins von 0,315 Prozent und die fünfjährige einen mit 0,207 Prozent. "Auch der Energiekonzern Eon gab Ende August eine Anleihe mit einer Rendite von minus 0,149 Prozent heraus. Beim französischen Telekommunikationskonzern Orange notierte eine Anleihe bei minus 0,24 Prozent. Vereinzelt lagen schon ab Mai Renditen von Unternehmensanleihen bei der Ausgabe leicht im Minus, so beim deutschen Chemiekonzern Merck KG AA oder bei den französischen Industriekonzernen Tales und Schneider Electric." [1] Die Unternehmen müssen folglich den Gläubigern am Ende der Laufzeit weniger Geld zurückzahlen, als sie sich von ihnen geliehen haben. Anders ausgedrückt: Siemens & Co. verdienen Geld, wenn sie sich Geld leihen. Warum sollten sie bei den Banken für vergleichsweise viel Geld Kredite nachfragen, wenn die Konzerne offenkundig in Liquidität schwimmen?

Deutschland hat vor kurzem erstmals eine 30-jährige Staatsanleihe mit Negativzins verkauft. Die Anleihe bringt 30 Jahre lang nicht einmal den Inflationsausgleich. Wirklich lukrativ ist das nicht, dennoch gibt es genug Käufer. Unglaublich. Banken sollen angeblich überlegen, ob sie künftig Baukredite mit Negativzins vergeben. Häuslebauer müssten dann weniger an die Bank zurückzahlen, als sie von ihr bekommen haben. Total verrückt. Exotische Gedanken wie Helikoptergeld schwirren durch die Finanzwelt. Trotz der enormen Geldschwemme bleibt die Inflation niedrig, was sämtlichen Lehrbüchern widerspricht. Das Vermögen der Geldelite steigt rasant, in bestimmten Märkten entwickeln sich Preisblasen, obendrein beklagen wir uns über steigende Altersarmut. Nicht zuletzt deshalb, weil durch den Niedrigzins die Altersvorsorge weiter Bevölkerungskreise allmählich dahinschmilzt wie Butter in der Sonne.

Ich warte ehrlich gesagt nur noch auf den großen Knall, mit dem das fragile Kartenhaus in sich zusammenfällt. Ja, ja, ich weiß: Normalbürger wie ich begreifen es eben nicht, die Finanzakrobaten wissen es wieder einmal besser. Genau wie 2007. Zur Erinnerung: Damals platzte die Subprime-Blase und die Welt stand kurz vor der Kernschmelze des Finanzsystems. Wir sind gerade noch einmal davongekommen, was freilich keine Garantie für die nächste Finanzkrise ist. Murphys Gesetz lebt: "Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen." In dieser Welt wird man zwangsläufig zum Pessimist.

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[1] Süddeutsche vom 10.09.2019