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29. September 2019, von Michael Schöfer
Die Menschheitsgeschichte ist durchtränkt von Lug und Trug


Die Menschheitsgeschichte ist so durchtränkt von Lug und Trug, dass es in höchstem Maße verwundert, dass wir immer noch darauf hereinfallen. Das beste Beispiel sind die blutrünstigen Diktatoren, die stets beteuerten, lediglich im Interesse des Volkes zu handeln. Was ihnen zugleich als Legitimationsgrundlage diente, vermeintliche Volksfeinde zu liquidieren. Die Feinde des Volkes zu dessen eigenem Wohl auszumerzen, war in ihren Augen absolut gerechtfertigt. Und wer Volksfeind war, definierten sie selbst.

Danach war jeder ein Volksfeind, der den Interessen der Diktatoren im Weg stand. Die Interessen des Volkes hingegen waren vollkommen irrelevant, denn in Wahrheit scherten sie sich um das Volk herzlich wenig, im Mittelpunkt standen immer nur sie selbst. Die Interessenidentität von Diktator und Volk ist in solchen Fällen bloß vorgeschoben. Von dem Volkswillen zu sprechen, ist in einer pluralistischen Gesellschaft sowieso faktisch unmöglich. Der einheitliche Volkswille ist ein künstliches Konstrukt, in Wirklichkeit existiert er gar nicht. In einer Gesellschaft gibt es von Natur aus immer unterschiedliche Interessen, die klug handelnde Politiker günstigstenfalls bündeln können. Der vielbeschworene einheitliche Volkswille wird erfahrungsgemäß erst durch repressive Maßnahmen erzeugt, etwa durch die Gleichschaltung der Presse und die Unterdrückung von Andersdenkenden.

Als drastischstes Beispiel hierfür sei die Diktatur des Proletariats in der früheren Sowjetunion angeführt, die in der Zeit des stalinistischen Terrors im Namen des Proletariats massenhaft Proletarier massakrierte. Und natürlich nebenbei viele innerparteiliche Widersacher. Überall wurden "Volksfeinde" vermutet, was den Terror über längere Zeit hinweg am Leben hielt. Im Gegenteil, die Diktatur war auf das Vorhandensein von Feinden geradezu angewiesen, weil nur sie die für alle spürbare Repression rechtfertigten. Freund oder Feind, entweder oder - dazwischen gab es nichts. Ohne Feinde konnte das System nicht überleben.

Die Feinde wechselten dabei praktischerweise je nach Bedarf, wer gestern noch voller Enthusiasmus für das Volk arbeitete, konnte schon morgen als schlimmster Volksfeind der Geschichte entlarvt und vor ein Gericht gestellt werden. Den stalinistischen Säuberungen fielen u.a. 13 frühere Mitglieder des Politbüros der KPdSU, 98 ehemalige Vollmitglieder oder Kandidaten des Zentralkomitees der KPdSU, mehr als 15 ehemalige Mitglieder der Regierung, 3 von 5 Marschällen der Sowjetunion sowie 13 von 15 Armeebefehlshabern zum Opfer. [1] Vermutlich alles ausnahmslos überzeugte Kommunisten. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Schon die Römer bezeichneten Menschen zielgerichtet als Volksfeinde, ebenso die französischen Jakobiner und die deutschen Nationalsozialisten. Derlei Diffamierungen waren also keineswegs nur für das Sowjetsystem charakteristisch, sie sind vielmehr ein generelles Merkmal von Autokratien. Welcher Couleur auch immer.

Gewiss, Donald Trump ist nicht Josef Wissarionowitsch Dschughaschwili (genannt Stalin), aber seine Rhetorik erinnert doch stark an ehemalige Sowjetführer: "Dies ist der größte Betrug in der Geschichte der amerikanischen Politik", kommentiert er das durch die Demokraten im Repräsentantenhaus eingeleitete Amtsenthebungsverfahren. "Die Demokraten wollen Euch Eure Waffen wegnehmen, sie wollen Eure Gesundheitsversorgung wegnehmen, sie wollen Eure Stimme wegnehmen, sie wollen Eure Freiheit wegnehmen, sie wollen Eure Richter wegnehmen, sie wollen alles wegnehmen. Wir dürfen das niemals zulassen. Weil unser Land wie niemals zuvor auf dem Spiel steht." Und: "Sie versuchen, mich zu stoppen, weil ich für Euch kämpfe - und ich werde das niemals zulassen." [2] Der Whistleblower, der den Ukraine-Skandal auslöste, ist für Trump natürlich "fast ein Spion", aber mit Sicherheit ein "Verräter". Und Journalisten, die darüber berichten, sind dem US-Präsidenten zufolge ohnehin "Feinde des Volkes".

Nicht weniger drohend agiert der britische Premier Boris Johnson. Unterhausabgeordneten, die sich für eine Verlängerung der Brexitfrist einsetzen, wirft er "Kapitulation" vor und bezichtigt sie des "Verrats". Johnson hat keine parlamentarische Mehrheit, weshalb er für das Unterhaus nur Verachtung übrig hat: "Die Wähler werden von diesem Zombie-Parlament und dieser Zombie-Opposition gefangen gehalten. Dazu sage ich Nein. Lassen Sie uns den Brexit durchziehen und das Land voranbringen." [3] Selbst seine Schwester, die Journalistin Rachel Johnson, ist entsetzt: "Ihr Bruder benutze Worte wie 'Kollaborateur', 'Verräter' und 'Kapitulation' in Verbindung mit Brexit-Gegnern, als ob diese für ihre Meinung 'gehängt, ausgeweidet und gevierteilt' werden sollten." [4]

Nicht einmal die schallende Ohrfeige durch das Oberste Gericht kann Boris Johnson bremsen. Der Supreme Court hatte geurteilt, dass die Suspendierung des britischen Parlaments durch den Premierminister rechtswidrig war, weil sie das Parlament in "extremer" Weise an der Wahrnehmung des verfassungsmäßigen Auftrags gehindert hat. Es müsse jedoch in der Lage bleiben, die Regierung zu kontrollieren. Selbst das ist Johnson egal: "Wir im Vereinigten Königreich werden uns nicht davon abhalten lassen, den Willen des Volkes umzusetzen", erwidert er trotzig. [5] Was heißt das konkret? Wird er seine Politik notfalls gegen den Willen der gewählten Volksvertreter und gegen die Urteile der Justiz durchsetzen? So beginnen Diktaturen.

Niemand steht über dem Gesetz - weder Donald Trump noch Boris Johnson. Doch das soll deren Freund-Feind-Rhetorik überdecken, schließlich vollstrecken die selbsternannten Volkstribunen nur den vermeintlichen Willen des Volkes. Früher wussten einige ganz genau, was Gott wollte, und das führte uns ins dunkle Zeitalter der Inquisition. Heute wissen einige offenbar ganz genau, was das Volk will. Und das will angeblich keine kritischen Fragen und keine wie auch immer geartete Beschränkung der Macht. Wohin wird uns das undemokratische Verhalten von Trump und Johnson führen? Die Menschheitsgeschichte ist so durchtränkt von Lug und Trug, dass es in höchstem Maße verwundert, dass wir immer noch darauf hereinfallen. Dennoch passiert es jedes Mal aufs Neue. Und kurioserweise diesmal in Ländern, die sich bislang gegenüber diktatorischen Anwandlungen immun gezeigt haben. Wenn wir nicht aufpassen, brechen mit Donald Trump und Boris Johnson tatsächlich erneut dunkle Zeiten an.

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[1] Wikipedia, Stalinsche Säuberungen
[2] Stern.de vom 29.09.2019
[3] tagesschau.de vom 28.09.2019
[4] FAZ.Net vom 27.09.2019
[5] Spiegel-Online vom 27.09.2019