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05. Oktober 2019, von Michael Schöfer
Die Widerspruchslösung ist ein akzeptabler Weg


"Darf mich der Staat zwangsweise zum Organspender machen, nur deswegen, weil ich es versäumt oder mich geweigert habe, mich mit meinem eigenen Tod zu befassen?", fragt Heribert Prantl in der Süddeutschen. [1] Es geht um die geplante Widerspruchslösung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Was ist mit Widerspruchslösung überhaupt gemeint? "Nach dem Gesetzentwurf gilt jede Person als Organ- oder Gewebespender, es sei denn, es liegt ein zu Lebzeiten erklärter Widerspruch oder ein der Organ- oder Gewebeentnahme entgegenstehender Wille vor. (…) Anders als bei der bisherigen Entscheidungslösung führt eine nicht abgegebene Erklärung dazu, dass eine Organ- oder Gewebeentnahme zulässig ist, soweit die sonstigen Voraussetzungen für eine Organ- oder Gewebeentnahme erfüllt sind", erläutert der Entwurf des Gesetzes zur Regelung der doppelten Widerspruchslösung im Transplantationsgesetz. [2]

Die Entnahme von Organen sei "ein ungeheuer massiver Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, die auch dem sterbenden und dem toten Menschen" zustehe, wettert Prantl. Die Widerspruchslösung wird seiner Ansicht nach der Würde des Menschen nicht gerecht. Doch Prantls Vergleich hinkt: "Der Staat denkt ja auch nicht daran, einen Teil des Vermögens eines Verstorbenen zu konfiszieren, um es dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zur Verfügung zu stellen - also einem guten Zweck, der Lebensrettung. Auch hier ließe sich sagen: 'Der hätte ja rechtzeitig Widerspruch einlegen können.'" Prantl vergleicht Äpfel mit Birnen. Der entscheidende Unterschied ist: Das Vermögen eines Verstorbenen wird an die Erben weitergereicht und steht ihnen unzweifelhaft zu. Gegebenenfalls nach Abzug der Erbschaftsteuer, versteht sich (ebenfalls ein staatlicher Eingriff in die materielle Substanz). Die Organe eines Verstorbenen hingegen werden entweder per Organspende an einen todkranken Menschen weitergereicht oder sie verrotten auf dem Friedhof bzw. verbrennen im Krematorium zu Asche. Sie sind, sofern sie nicht gespendet werden, absolut nutzlos und endgültig verloren.

Kein Erbe darf mit dem Leichnam seines Angehörigen machen, was er will. Selbst der Verstorbene kann zu Lebzeiten nur eingeschränkt Verfügungen über seinen Leichnam treffen. Es besteht nämlich hierzulande eine Bestattungspflicht, die in den Bestattungsgesetzen der Länder geregelt ist. "Verstorbene müssen bestattet werden", heißt es etwa im Bestattungsgesetz von Baden-Württemberg (§ 30). "Die Bestattung kann als Erd-, Feuer- oder Seebestattung vorgenommen werden" (§ 32). Allerdings: "Verstorbene dürfen nur auf Bestattungsplätzen erdbestattet werden" (§ 33 Abs. 1). Und: "Verstorbene dürfen nur in Feuerbestattungsanlagen eingeäschert werden (Feuerbestattung), deren Betrieb behördlich genehmigt ist" (§ 33 Abs. 2). Der Staat bestimmt also durchaus auch noch nach dem Tod eines Menschen, was mit seinen sterblichen Überresten zu geschehen hat. Ist es ein unzulässiger Eingriff in die Würde des Menschen, wenn der Staat verbietet, Verstorbene im eigenen Garten zu begraben? Wohl kaum.

"Sterben ist ein Prozess. Die Organspende verkürzt diesen Sterbeprozess", schreibt der SZ-Kolumnist. Doch das ist falsch, denn die Entnahme von Organen ist nach dem Transplantationsgesetz nur dann zulässig, wenn zuvor "der Tod des Organ- oder Gewebespenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt" wurde. [3] Der Tod wird durch den Hirntod festgestellt, das ist den Richtlinien zufolge "der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms". [4] Die Organspende verkürzt also, anders als Prantl suggeriert, keineswegs den Sterbeprozess, vielmehr ist der Organspender bereits gestorben, seine Körperfunktionen werden lediglich temporär durch Apparate künstlich aufrechterhalten. Dass Heribert Prantl die Ängste der Menschen mit falschen Behauptungen schürt, ist in meinen Augen unseriös und wird der Debatte über den Gesetzentwurf nicht gerecht. Noch einmal: Der potenzielle Organspender ist schon vor der Organentnahme tot.

Was bei Prantl nur angedeutet wird und deshalb viel zu kurz kommt, sind die erschreckenden Zahlen, hinter denen sich Schicksale von Menschen verbergen. Wohlgemerkt: Schicksale von lebenden Menschen. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) haben im vergangenen Jahr 955 Menschen postmortal insgesamt 3.113 Organe gespendet, auf der Warteliste standen aber 9.697 Patienten, die ein Organ gebraucht hätten (Stand: 31.12.2018). [5] Im internationalen Vergleich steht Deutschland in puncto Organspendebereitschaft ganz hinten, 2017 gab es in Österreich im Verhältnis zweieinhalbmal so viel und in Spanien sogar fast fünfmal so viel Organspender.

Es sei "nicht hoch genug zu würdigen", wenn ein Mensch Organe spendet, schreibt Prantl, aber "dieser Rettungsakt" dürfe "nicht dekretiert werden". Man kann es auch anders sehen: Die geringe Spendenbereitschaft ist eigentlich ein Skandal, weil dadurch Tausenden das rettende Organ vorenthalten wird. Organspenden können zu Lebzeiten nicht verordnet werden, das ist vollkommen richtig. Der lebende Mensch gehört sich selbst, nicht dem Staat oder der Gesellschaft. Aber darf der Staat nach dem Erlöschen der individuellen Existenz nicht wenigstens bestimmte Körperteile nutzen? Ich meine schon, denn es hilft, anderen die Lebenszeit zu verlängern.

Es ist, wie so vieles, ein Abwägungsprozess: Auf der einen Seite steht das Verfügungsrecht über die eigenen sterblichen Überreste. Auf der anderen Seite steht das Recht von Todkranken, dass man alles ethisch Verantwortbare für sie tut. Und in diesem Fall gilt meine Präferenz dem Leben. Anders gefragt: Sollen Menschen sterben, bloß weil sich potenzielle Organspender zu Lebzeiten nicht mit dieser Frage befasst haben? Nein! Da man aktiv widersprechen kann, wenn - warum auch immer - eine Organspende nach dem Tod ablehnt wird, ist die Widerspruchslösung ein akzeptabler Weg, Menschen zu retten, die dringend auf ein Organ warten. Jeder von uns kann in die verzweifelte Lage kommen, ein Spenderorgan zu brauchen. Und vermutlich würde keiner das rettende Organ ablehnen, weil er die Organentnahme ohne aktive Einwilligung für unethisch und mit der Würde des Verstorbenen für unvereinbar hält. Wahrscheinlich noch nicht einmal die, die bei sich selbst jede Organspende kategorisch ausschließen. Insofern beinhaltet die Ablehnung der Widerspruchslösung auch einen Akt der Heuchelei.

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[1] Süddeutsche vom 04.10.2019
[2] Bundesgesundheitsministerium, PDF-Datei mit 160 KB
[3] Transplantationsgesetz, § 3 Abs. 1 Nr. 2, PDF-Datei mit 156 KB
[4] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, PDF-Datei mit 775 KB
[5] Deutsche Stiftung Organtransplantation, Jahresbericht Organspende und Transplantation in Deutschland 2018, Seite 8 und 11, PDF-Datei mit 3,3 MB