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20. Oktober 2019, von Michael Schöfer
Von Fakten völlig ungetrübt


Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) wird von der FAZ mit den Worten zitiert: "Die Leute lehnen diese Klima-Hysterie ab". Und er fordert: "Wir brauchen in den Fragen des Klimaschutzes einen gesellschaftlichen Konsens und eine gewisse Ruhe und Sachlichkeit. Das findet nicht statt." [1]

Okay, schauen wir uns doch einmal in der gebotenen Ruhe und Sachlichkeit ein paar Fakten an:

Insektensterben
"Bei 45 % (3.086 Arten und Unterarten) der ausgewerteten Insekten war der langfristige Bestandstrend rückläufig. (…) Eine langfristige Zunahme konnte dagegen nur bei insgesamt 2 % der bislang untersuchten Insektenarten festgestellt werden. (…) Eine im Jahr 2017 veröffentlichte Langzeitstudie zur Veränderung der Biomasse von Fluginsekten zeigt die negative Entwicklung in deutschen Schutzgebieten auf. (…) Die Forscher konnten zeigen, dass die Gesamtbiomasse der Fluginsekten bis 2014 um 76 % zurückgegangen ist." Wer sagt das? Ach, bloß die Hysteriker vom Bundesamt für Naturschutz. [2] Dass durch den dramatischen Rückgang der Insekten die Nahrungskette kollabieren könnte - was soll's?

Aussterben von Tier- und Pflanzenarten
Das sechste Massenaussterben ist in vollem Gange, stellt ein UN-Report fest, für den 15.000 Studien zur Artenvielfalt und zum Zustand der Ökosysteme ausgewertet wurden. "Menschliches Handeln bedroht heute mehr Arten mit globalem Aussterben als je zuvor", heißt es dort. Innerhalb der nächsten Jahrzehnte dürften rund eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sein. Die jetzige Rate des weltweiten Artensterbens ist mindestens zehn- bis einhundertmal höher als im Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre. Und das Artensterben nimmt immer mehr zu. [3] Wer sagt das? Ach, bloß die Hysteriker vom Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, einer Organisation der Vereinten Nationen. Dem letzten Massenaussterben fielen übrigens vor 66 Millionen Jahren u.a. die Dinosaurier zum Opfer.

Anstieg des Meeresspiegels
Der Eismassenverlust in Grönland hat sich gegenüber dem Zeitraum von 1997 bis 2006 verdoppelt und in der Antarktis sogar verdreifacht. "Konkret hat die Masse des antarktischen Eisschilds in der Zeit seit 2006 um 155 Gigatonnen pro Jahr abgenommen - das ist deutlich mehr als noch im 5. Weltklimabericht angegeben. Hauptursache hinter diesem Eisverlust ist das Ausdünnen und Zurückziehen der Auslassgletscher der Westantarktis. Auch in Grönland hat der Gletscherrückgang an Tempo zugenommen. Lag der Eisverlust dort von 1997 bis 2006 noch bei rund 215 Gigatonnen pro Jahr, waren es im darauffolgenden Jahrzehnt bereits 278 Gigatonnen jährlich." Bei einer weitgehend ungebremsten Erwärmung bis zum Jahr 2100 könnte der Meeresspiegel "im Schnitt um 61 bis 110 Zentimeter gegenüber den Pegeln bis 2005 steigen". Heute leben in den Küstenregionen unterhalb von 10 Metern über Normalhöhennull 680 Millionen Menschen, 2050 werden es voraussichtlich mindestens eine Milliarde sein. Wer sagt das? Ach, bloß mehr als 100 Wissenschaftler aus 36 Nationen, die knapp 7.000 Forschungsarbeiten gesichtet und ausgewertet haben. Natürlich allesamt Klima-Hysteriker. [4]

Permafrostböden
Die Permafrostböden tauen viel schneller auf als ursprünglich prognostiziert, sie haben momentan bereits den Stand erreicht, der eigentlich erst für 2090 vorhergesagt wurde. "Wir stellen fest, dass die beobachteten maximalen Auftautiefen an allen Standorten bereits heute regelmäßig die modellierten zukünftigen Auftautiefen für 2090 unter IPCCRCP 4.5 überschreiten." Folge: Das Auftauen der Permafrostböden wird gewaltige Mengen an Treibhausgasen freisetzen (Methan, Kohlendioxid). Wer sagt das? Unter anderem Louise M. Farquharson vom Geophysical Institute Permafrost Laboratory der Universität von Alaska in Fairbanks/USA. Nachzulesen in den Geophysical Research Letters. Farquharson und Kollegen sind, Sie ahnen es bereits, zweifelsohne unbelehrbare Klima-Hysteriker. [5] Und ach, bevor ich es vergesse, die Klima-Hysteriker vom Alfred Wegener Institut in Potsdam waren ebenfalls an der Studie beteiligt.

Liebe Leserinnen und Leser, ich will Sie nicht ermüden, weshalb ich an dieser Stelle auf die Darstellung der Folgen des Klimawandels auf die Landwirtschaft und die Fischerei verzichte. Natürlich sind für die wenig ermutigenden Studien ausschließlich Klima-Hysteriker verantwortlich. Lassen Sie sich daher auch von den Prognosen nicht irritieren, die uns Probleme bei der Ernährungslage der Weltbevölkerung vorhersagen. Denn Michael Kretschmer (CDU) weiß: "Die Leute lehnen diese Klima-Hysterie ab." Schauen wir uns alles in bewundernswerter Ruhe an und betreiben anschließend ein bisschen Placebo-Politik - so wie es die Bundeskanzlerin für gewöhnlich tut.

Dumm für Michael Kretschmer, dass der Klimawandel in Wahrheit außerordentlich beunruhigend ist. Die vorliegenden Daten liegen leider am oberen Rand der Prognosen, teilweise gehen sie sogar darüber hinaus, die schlimmsten Vorhersagen scheinen sich also zu bewahrheiten. Mit anderen Worten: Das, was der sächsische Ministerpräsident abwertend als "Hysterie" bezeichnet (laut Duden: nervöse Aufgeregtheit, Erregtheit, Erregung, Überspanntheit), kann sich auf handfeste und überprüfbare Fakten berufen. Da der globale CO2-Ausstoß von Treibhausgasen ungebremst weitergeht, 2018 erreichte er der Internationalen Energieagentur zufolge mit einem Plus von 1,8 Prozent und insgesamt 33,1 Gigatonnen einen neuen Rekord [6], sollten wir wirklich hochgradig besorgt sein.

Michael Kretschmer tut sich keinen Gefallen, wenn er sich in die Riege der postfaktischen Leugner oder Abwiegler einreiht, denn auch der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland kämpft gegen die vermeintliche Klima-Hysterie. Natürlich darf man über den besten Weg zur Klimaneutralität streiten, wer aber deren Notwendigkeit in Abrede stellt, versündigt sich an der Zukunft künftiger Generationen. Ruhe und Sachlichkeit dürfen kein Synonym für Ignoranz sein. Und Diffamierungen sollten sich für einen Ministerpräsidenten von selbst verbieten.

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[1] FAZ.Net vom 20.10.2019
[2] BfN, Bestandstrends und Gefährdung der Insekten
[3] IPBES, Summary for policymakers of the global assessment report on biodiversity and ecosystem services, PDF-Datei mit 4,7 MB
[4] Wissenschaft.de vom 25.09.2019 und IPCC, The Ocean and Cryosphere in a Changing Climate, Summary for Policymakers, PDF-Datei mit 7 MB
[5] American Geophysical Union vom 26.06.2019, Climate change drives widespread and rapid thermokarst development in very cold permafrost in the Canadian High Arctic, PDF-Datei mit 2,5 MB
[6] Süddeutsche vom 27.03.2019