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10. November 2019, von Michael Schöfer
Das Militär kann dazu nichts beitragen


Ob die NATO nun "hirntot" ist, wie es der französische Präsident Emmanuel Macron formulierte, sei dahingestellt. Zumindest ist spätestens seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump klar geworden, dass es im Bündnis gewaltig rumort. Die NATO sei "obsolet", verkündete Trump. Und er stellte den Kern der Verteidigungsallianz infrage, indem er Zweifel daran säte, ob die USA noch zur Beistandsgarantie des Artikel 5 stehen. "Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird", heißt es im Nordatlantikvertrag. Ohne glaubwürdige Beistandsgarantie macht die NATO in der Tat keinen Sinn mehr, sie wäre somit, um es mit Macrons Worten zu sagen, gewissermaßen "hirntot".

Sicherlich, Donald Trump wird nicht ewig US-Präsident bleiben, demzufolge wird es auch eine Zeit nach ihm geben. Doch man muss konstatieren, dass die NATO schon lange vor ihm Risse zeigte. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag deren Gründung in beiderseitigem Interesse - die Europäer versprachen sich von ihr Schutz gegen eine militärisch übermächtig erscheinende Sowjetunion, die Amerikaner wiederum versprachen sich von ihr Hilfe bei der Eindämmung des Kommunismus. Später, mit dem Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten europäischen Wirtschaft, traten auch ökonomische Motive hinzu.

Innerhalb der NATO gab es von Anfang an ein strategisches Ungleichgewicht: Ohne die USA wäre Westeuropa vermutlich zumindest konventionell außerstande gewesen, einer militärischen Aggression der Sowjetunion zu trotzen. (Unabhängig davon, ob es eine solche überhaupt je gegeben hätte.) Auf der anderen Seite versprachen sich die USA nach der nuklearen Bewaffnung der UdSSR, dem Gleichgewicht des Schreckens (der wechselseitig zugesicherten Zerstörung) ein Schnippchen schlagen zu können. Mit unfreiwilliger Hilfe der Europäer, versteht sich. Spätestens zu Beginn der achtziger Jahre (noch unter Jimmy Carter) kamen nämlich Planspiele an die Öffentlichkeit, die den führ- und gewinnbaren Atomkrieg propagierten. Und diese Planspiele sahen Europa als Schlachtfeld eines begrenzten nuklearen Schlagabtauschs vor, woran allerdings die Europäer naturgemäß keinerlei Interesse haben konnten, da der - aus der Sicht der USA - begrenzte Atomkrieg für sie der totalen Auslöschung gleichgekommen wäre. Die Zweifel an der Beistandsgarantie gab es also bereits damals, denn es wurde allenthalben am Willen der USA gezweifelt, für die Existenz der Westeuropäer die Vernichtung des amerikanischen Territoriums zu riskieren. Donald Trumps "America First"-Strategie hat dieses Ungleichgewicht nur deutlicher zutage treten lassen. Und es wäre naiv anzunehmen, dass es sich nach seiner Amtszeit von heute auf morgen in Luft auflöst.

"Ohne die Vereinigten Staaten sind weder Deutschland noch Europa im Stand, sich wirkungsvoll zu schützen", warnt Bundesaußenminister Heiko Maas. Aber er zieht daraus die falschen Schlussfolgerungen. "Eine Außen- und Sicherheitspolitik ohne Washington wäre unverantwortlich, eine Entkopplung europäischer und amerikanischer Sicherheit gefährlich." [1] Maas ignoriert, dass diese Entkopplung der europäischen und amerikanischen Sicherheit faktisch schon seit langem existiert - ganz unabhängig von Donald Trump.

Nach Angaben der Weltbank erwirtschafteten die USA (328 Mio. Einwohner) im vergangenen Jahr ein Bruttoinlandsprodukt von 20,5 Billionen US-Dollar, die Europäische Union (514 Mio. Einwohner) lag mit 18,8 Billionen US-Dollar dicht dahinter und noch vor China auf Platz 2. Russland dagegen rangierte mit 145 Mio. Einwohnern und lediglich 1,7 Billionen US-Dollar weit abgeschlagen dahinter zwischen Kanada und Südkorea auf Platz 8. [2] Die Wirtschaftskraft der EU ist vom Potenzial her absolut ausreichend, um gegenüber Russland eine angemessene Verteidigungsfähigkeit bereitzustellen.

Schon heute sind die Rüstungsausgaben Russlands wesentlich niedriger als die der Europäer. Dem renommierten Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) zufolge betrugen die russischen Militärausgaben 2018 umgerechnet 61,4 Mrd. US-Dollar. Selbst wenn man die Angaben von SIPRI für untertrieben hält und sie vorsichtshalber auf 122,8 Mrd. US-Dollar verdoppelt, reichen sie nicht an die knapp 281 Mrd. US-Dollar heran, die die 28 Mitgliedstaaten der EU für ihr Militär ausgeben (siehe Tabelle).

Militärausgaben der Europäischen Union 2018 (in Mrd. US-Dollar) [3]
Belgien 4,960
Bulgarien 1,096
Dänemark 4,228
Deutschland 49,471
Estland 0,618
Finnland 3,849
Frankreich 63,800
Griechenland 5,227
Irland 1,208
Italien 27,808
Kroatien 0,890
Lettland 0,680
Litauen 1,030
Luxemburg 0,419
Malta 0,069
Niederlande 11,243
Österreich 3,367
Polen 11,596
Portugal 4,248
Rumänien 4,609
Schweden 5,755
Slowakei 1,281
Slowenien 0,529
Spanien 18,248
Tschechien 2,710
Ungarn 1,642
Vereinigtes Königreich 49,997
Zypern 0,382

280,960

Sogar ohne Großbritannien brauchen sich die übrigen 27 Mitgliedstaaten keineswegs zu verstecken. Dass die Europäer ihre Militärausgaben ineffizient nutzen, steht auf einem anderen Blatt und ist strukturellen Umständen geschuldet. Die Europäer leisten sich im Gegensatz zu den USA zu viele unterschiedliche Waffensysteme, und zwar insgesamt 178 Hauptwaffensysteme, während die USA mit 30 auskommen. [4] Die Europäer verwenden sechsmal so viele. Warum? Außerdem bleibt die Europäische Armee schon allein aus verfassungsrechtlichen Gründen bis auf weiteres eine unerfüllbare Utopie.

Anzahl der unterschiedlichen Waffensysteme

EDA-Mitgliedstaaten* USA
Kampfpanzer 17 1
gepanzerte Infanterie-Kampffahrzeuge 20 2
152-mm/155-mm-Haubitzen 27 2
Kampfflugzeuge 20 6
Kampfhubschrauber 4
2
Anti-Schiffs-Raketen 12 2
Luft-Luft-Raketen 13 3
Zerstörer/Fregatten 29 4
Torpedos 20 4
konventionelle U-Boote 11 0
Atom-U-Boote 5
4

178 30
*European Defence Agency (Europäische Verteidigungsagentur):
27 EU-Mitgliedstaaten (Dänemark ist nicht Mitglied), Angaben Stand 2016


Die effizientere Nutzung der finanziellen Ressourcen scheiterte bislang an nationalen Egoismen, kein Mitgliedstaat war willens, die heimische Rüstungsindustrie preiszugeben. Würden wir Europäer enger miteinander kooperieren (nicht bloß in Strategiepapieren, sondern tatsächlich), bräuchten wir nicht einmal die Verteidigungshaushalte zu erhöhen. Natürlich können wir uns ohne die Vereinigten Staaten wirkungsvoll schützen - zumindest wenn wir es wirklich wollen und bereit sind, daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen. Und wir sollten es auch tun, weil es ohnehin geboten ist, sich nicht ständig auf den Beistand des großen Bruders in Washington zu stützen. Die Interessen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union sind nicht deckungsgleich, aber die selbstverschuldete militärische Abhängigkeit engt unseren Handlungsspielraum ein. Damit fordere ich mitnichten, europäische Soldaten in alle Welt zu schicken, wie das offenbar CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer anstrebt, sondern vielmehr eine eigenständige Territorialverteidigung Europas.

Ob die NATO nun hirntot ist oder nicht, vermag niemand zu sagen. Doch die Warnsignale sind jedenfalls groß genug, um den Europäern endlich bewusst werden zu lassen, dass sie sich mehr anstrengen und gleichzeitig von den USA emanzipieren müssen. Solange wir uns bereitwillig den wechselnden Launen einer Weltmacht ausliefern, werden wir nur die Rolle eines Juniorpartners einnehmen, den keiner richtig ernst nimmt. Wir machen uns dadurch bloß selbst zum Spielball des jeweils regierenden US-Präsidenten. Was ist, wenn es irgendwann noch schlimmer kommt, als es unter Donald Trump sowieso schon ist? Wir sollten uns deshalb vor einer solchen Entwicklung wappnen. Das brüchig gewordene Bündnis gesundzubeten, wie es Angela Merkel, Heiko Maas und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg tun, ist als Strategie völlig unzureichend. Die NATO ist unverkennbar in der Krise. Und Krisen wird man nicht Herr, indem man sie ignoriert und einfach nur auf bessere Zeiten hofft. Die mögen kommen - oder auch nicht. Passiv dem zu harren, was da auf uns zukommen mag, ist eindeutig zu wenig.

Europa muss selbständiger werden, darf jedoch nicht in die Rolle des Ersatz-Weltpolizisten schlüpfen. Viele Krisenherde sind ja nur deswegen entstanden, weil man geglaubt hat, man müsse dort militärisch intervenieren. Der Schuss ging bekanntlich oft genug nach hinten los. Die wahre Stärke Europas liegt in seiner kulturellen Vielfalt, seiner ökonomischen Potenz und seiner demokratischen Geisteshaltung. Das zu bewahren und auszubauen ist die vordringliche Aufgabe. Das Militär kann dazu nichts beitragen und dient lediglich der äußeren Absicherung. Dabei sollte es bleiben.

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[1] Spiegel-Online vom 10.11.2019
[2] Weltbank, GDP (current US$)
[3] SIPRI, Military expenditure data, Data for all countries from 1988-2018 in constant (2017) USD, PDF-Datei mit 363 KB
[4] Münchner Sicherheitskonferenz, Munich Security Report 2017, Seite 21, PDF-Datei mit 3,2 MB