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24. Dezember 2019, von Michael Schöfer
Wiedervorlage in fünf oder zehn Jahren


"Dürften sie erneut entscheiden, wäre eine Mehrheit der Briten gegen den Brexit", schrieb die Berliner Morgenpost Anfang 2019. [1] Etwas, das man hierzulande in der Presse recht häufig lesen konnte. Doch die Mutter aller Umfragen ist bekanntlich die Wahl. Und bei der Unterhauswahl vom 12. Dezember 2019 haben die Tories 365 Mandate erobert und damit die Labour Party (203 Mandate) klar distanziert. Premierminister Boris Johnson setzte voll auf den EU-Austritt ("Let's get Brexit done") und gewann haushoch. Der von den Medien vermittelte Eindruck, dass der Ausgang des EU-Referendums gewissermaßen ein Unfall gewesen sei, den die Briten am liebsten korrigieren würden, war offenkundig falsch. Wäre es anders gewesen, hätten eigentlich die Liberaldemokraten die Wahl gewinnen müssen.

Nach der Wahl stand das Resümee der Presse schnell fest: Ein notorischer Lügner hat sich gegen einen anachronistischen Altlinken durchgesetzt. War ja vorauszusehen, konnte schließlich gar nicht anders ausgehen, las man in den Kommentarspalten. Dass es im ersten Halbjahr 2019 für Labour lange Zeit wesentlich besser aussah - geschenkt! [2] Doch die Unterhauswahlen sind selbst auf den zweiten Blick durchaus interessant.

Die Labour Party war - anders als die Konservativen - zweifellos schon im Vorfeld der Wahl gehörig in der Klemme, da ihre Anhänger in der Brexit-Frage gespalten waren. Angesichts dessen lag die unentschlossene Haltung Labours im Wahlkampf zwar nahe, sie hat sich jedoch letztlich als verheerend entpuppt, weil dadurch viele Leaver und gleichzeitig etliche Remainer die Partei wechselten: 33 Prozent der Wähler, die 2016 für den EU-Austritt gestimmt und bei der Unterhauswahl 2017 die Partei von Jeremy Corbyn gewählt haben, liefen 2019 zu den Tories über. Andererseits wechselten 12 Prozent der Wähler, die 2016 gegen den EU-Austritt stimmten und bei der Unterhauswahl 2017 die Partei von Jeremy Corbyn wählten, zu den Liberaldemokraten, die sich in aller Deutlichkeit für den Verbleib in der EU aussprachen. [3] Corbyn hatte somit die Wahl zwischen Pest und Cholera - und bekam zu seinem Leidwesen am Ende beides. Die von ihm favorisierten sozialen Themen drangen nicht durch.

Unterstützt durch das britische Mehrheitswahlrecht (the winner takes all) gewannen die Tories zahlreiche Wahlkreise in traditionellen Labour-Hochburgen hinzu. [4] Die Unterhauswahl 2019 demonstriert abermals, wie dramatisch anders ein Wahlergebnis durch das Mehrheitswahlrecht ausfällt.


Prozentanteil Mandatsverteilung
Mehrheitswahlrecht
Mandatsverteilung
Verhältniswahlrecht [5]
Conservative Party 43,6 % 365 290
Labour Party 32,2 % 203 213
Scottish National Party 3,9 % 48 25
Liberal Democrats 11,5 % 11 76
Democratic Unionist Party 0,8 % 8
5
Sinn Féin 0,6 % 7
3
Plaid Cymru 0,5 % 4
3
Social Democratic & Labour Party 0,4 % 2
2
Green Party of England and Wales 2,7 % 1
17
Alliance Party of Northern Ireland 0,4 % 1
2
Brexit Party 2,0 % -
13
Ulster Unionist Party 0,3 % - 1


650
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Für die absolute Mehrheit im Unterhaus sind 326 Mandate notwendig, diese Hürde haben die Tories unter Boris Johnson mit Leichtigkeit übersprungen. Bei einem reinen Verhältniswahlrecht hätten sie allerdings die absolute Mehrheit verpasst und müssten sich Koalitionspartner suchen (was die Briten als "hung parliament" bezeichnen). Der Unterschied zwischen den Tories und Labour beträgt imposante 162 Mandate, doch bei einem reinen Verhältniswahlrecht würde dieser Vorsprung auf 77 Mandate schrumpfen.

Noch krasser: Die SNP bekommt mit ganzen 1,242 Mio. Stimmen 48 Unterhaussitze, die Liberaldemokraten dagegen mit 3,696 Mio. Stimmen (also fast dreimal so vielen Wählern) nur 11. Die Grünen gewinnen mit 835.579 Stimmen lediglich ein Mandat, die vier Regionalparteien Democratic Unionist Party, Sinn Féin, Plaid Cymru und Social Democratic & Labour Party mit zusammen 697.982 Stimmen jedoch 21. Kurzum, das Mehrheitswahlrecht ist alles, bloß nicht repräsentativ für die Bevölkerung.

Spannend ist die soziale Schichtung. Je jünger, weiblicher und gebildeter, desto mehr profitierte Labour. Und je älter, männlicher und ungebildeter, desto mehr profitierten die Tories. Auch wenn Nachwahlbefragungen wegen der Ungenauigkeit mit Vorsicht zu genießen sind:

Bei den 18- bis 24-Jährigen hat Labour satte 56 Prozent bekommen, bei den 25- bis 29-Jährigen 54 Prozent und bei den 30- bis 39-Jährigen immer noch beachtliche 46 Prozent. Entsprechend schlecht schneiden in diesen Altersgruppen die Tories ab (21, 23 und 30 %). Erst bei Wählern über 40 bekamen die Konservativen mehr Stimmen als die Sozialisten. [siehe YouGov-Grafik]

Frauen bis 49 Jahre neigen mehr zu Labour, Männer der gleichen Altersgruppe erkennbar weniger. Erst in der Altersgruppe ab 50 bekamen die Tories bei beiden Geschlechtern eine deutliche Mehrheit. [siehe YouGov-Grafik]

Bei Wählern mit niedrigem Bildungsstand gewannen die Tories 58 Prozent, bei denen mit hohem freilich nur 29. Anders das Ergebnis von Labour: 25 Prozent bei den weniger Gebildeten, aber 43 Prozent bei Wählern mit hohem Bildungsstand. [siehe YouGov-Grafik] Überspitzt formuliert könnte man behaupten: Die Tories haben deswegen überhaupt kein Interesse an der Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus.

Daten über die tatsächliche Wahlbeteiligung aufgeschlüsselt nach Altersgruppen (turnout by age) habe ich bedauerlicherweise keine gefunden, doch ich vermute wohl nicht zu Unrecht, dass die jüngere Generation im Vergleich zu den Älteren erneut unterdurchschnittlich in die Wahllokale geströmt ist. So war es jedenfalls beim EU-Referendum im Juni 2016. [6] Einer Umfrage von Ipsos zufolge, die unmittelbar vor der Unterhauswahl durchgeführt wurde (Befragungszeitraum 15.11. bis 11.12.2019), beabsichtigten 47 Prozent der Wähler in der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren zur Wahl zu gehen. In der Altersgruppe ab 65 und darüber waren es hingegen 74 Prozent. [7] Es bewahrheitet sich eben immer wieder aufs Neue: Wer sich nicht selbst zu einer Entscheidung aufrafft, über dessen Schicksal entscheiden andere.

Alles in allem war die Strategie Johnsons anerkanntermaßen ein voller Erfolg. Und spiegelbildlich die von Labour ein Desaster. Jetzt bekommen die Briten endgültig den Brexit. Wie die Zeit danach aussieht, steht gleichwohl in den Sternen. Aussagen darüber lassen sich erst treffen, wenn die Briten mit der EU ein Handelsabkommen abgeschlossen haben. In fünf oder zehn Jahren wissen wir vielleicht, ob sich der Brexit als Fluch oder Segen entpuppt.

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[1] Berliner Morgenpost vom 09.01.2019
[2] ukpollingreport, Voting Intention since 2010
[3] YouGov, Survey Results, PDF-Datei mit 272 KB
[4] siehe Karte bei BBC, Election 2019, Results
[5] Wahlinfo.de, Mandaterechner, Berechnung der Mandate nach d'Hondt, Ergebnis ohne Sperrklausel
[6] siehe Beschwert Euch nicht, macht was! vom 25.06.2016
[7] Ipsos MORI, How Britain voted in the 2019 election