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31. Dezember 2019, von Michael Schöfer
Je mehr Intoleranz, desto weniger Freiheit


Der immer stärker werdende Antisemitismus in der Welt geht uns alle an. Nicht bloß, weil er zu den dümmsten, bösartigsten und menschenverachtendsten Vorurteilen gehört, sondern weil dort, wo er sich ungehindert ausbreitet, letztlich alle bedroht sind. Juden waren für die Herrschenden schon von jeher die idealen Sündenböcke. Man verbot ihnen die Ausübung zahlreicher Berufe, untersagte ihnen Haus- und Grundbesitz, sperrte sie in Gettos ein, vertrieb sie aus dem Land oder schlug sie in Pogromen auf widerwärtigste Weise massenhaft tot. 2000 Jahre Verfolgung - wobei der Holocaust, die industrielle Vernichtung von Menschen, nur die allerschlimmste Form des Antisemitismus darstellte. Unsägliches Leid, unbeschreibliche Grausamkeiten. Warum? Weil der Firnis der Zivilisation bekanntlich dünn ist. Und darunter ist der Mensch dem Menschen ein Wolf.

Bedauerlicherweise wachsen der Hydra ständig neue Köpfe, wie wir beim Anschlag auf die Synagoge in Halle oder gerade eben auf die in New York gesehen haben. Kürzlich hat mir jemand erzählt, man könne die Staatsangehörigkeit Israels nur erwerben, wenn man das Juden-Gen besitze. Unterschwellige Absicht der nachweislich unwahren Behauptung war vermutlich: Schau her, sogar die Juden akzeptieren nachträglich die Rassenideologie der Nazis. Nichts könnte falscher sein. In aller Kürze: Außer durch Geburt als Nachkomme israelischer Staatsbürger erhält man die israelische Staatsbürgerschaft durch das Rückkehrgesetz (im Wesentlichen für Überlebende des Holocausts und Flüchtlinge) sowie durch Einbürgerung. Juden, d.h. wer als Kind einer jüdischen Mutter bzw. deren Ehepartner geboren wurde oder zum Judentum konvertierte, ist die Einbürgerung garantiert. Der Nachweis eines angeblichen Juden-Gens ist nicht erforderlich. Nicht zuletzt, weil es so ein Gen gar nicht gibt, die Existenz desselben ist nämlich wissenschaftlich betrachtet Humbug. Juden sind keine Rasse (wobei schon der Begriff "Rasse" als solcher fragwürdig ist), sondern vielmehr Angehörige einer Religionsgemeinschaft. Dennoch werden immer wieder die krudesten Behauptungen in die Welt gesetzt.

Juden sitzen heutzutage erneut auf gepackten Koffern. Traurig genug. Angesichts der jahrtausendelangen Verfolgung von Juden kann man sicherlich nachvollziehen, wie wichtig für sie der Staat Israel ist. Nein, nicht nur wichtig, sondern unverzichtbar. Seit der Vertreibung durch die Römer aus Palästina im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. waren sie überall bestenfalls eine leidlich geduldete Minderheit, seit 1948 (Staatsgründung Israels) sind sie wenigstens an einem Ort auf diesem Planeten in der Mehrheit und damit vor Verfolgung sicher. Gewiss, man kann und darf den Staat Israel für vieles kritisieren, vor allem für den höchst fragwürdigen Umgang mit den Palästinensern nach dem Sechstagekrieg (1967) und der anschließenden Besetzung der arabischen Gebiete, aber eines muss davon immer ausgenommen bleiben: die Existenz des Staates Israel. Die sichere Heimstatt für Juden steht unter keinen Umständen zur Disposition.

Was geht das mich an, werden Sie vielleicht fragen. Wahrscheinlich sind Sie kein Jude und noch nicht einmal religiös. Ihre Frage kann man unter zwei Gesichtspunkten beantworten: Erstens sind die Menschenrechte universell. Werden sie missachtet, muss uns das als Mensch interessieren, selbst wenn wir davon nicht direkt betroffen sein sollten. Die Menschenrechte sind der Mindeststandard unserer Zivilisation, der ungeachtet der sonstigen Verhältnisse stets eingehalten werden muss. Zweitens, und damit komme ich auf die eingangs erwähnte Bemerkung zurück, zeigt uns die historische Erfahrung, dass es dort, wo Juden diskriminiert oder ermordet wurden, am Ende auch andere getroffen hat. Der Antisemitismus ist nur eine spezielle Form von Intoleranz. Und dort, wo man den Antisemitismus antrifft, herrscht meist auch gegenüber anderen Minderheiten Intoleranz. Etwa gegenüber politisch Andersdenkenden. Oder gegenüber Menschen anderer ethnischer oder sozialer Herkunft. Oder gegenüber Menschen mit einer abweichenden sexuellen Präferenz. Es liegt daher in unserem ureigensten Interesse, die Intoleranz generell zu ächten. Wir müssen uns das Ganze als kommunizierende Röhren vorstellen: Je mehr Intoleranz, desto weniger Freiheit. Und natürlich gilt umgekehrt: Je weniger Intoleranz, desto mehr Freiheit.

Wer Hass sät, wird Gewalt ernten. Und am Ende schadet sich eine Gesellschaft, wenn sie dem Hass keinen Einhalt gebietet, selbst am meisten. Anscheinend haben viele die Lehren der Geschichte wieder vergessen, zum Beispiel wohin der mörderische Antisemitismus der Nazis geführt hat. "Gebt mir vier Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen!", hat Hitler nach der Machtergreifung 1933 gesagt. Das war nicht einmal gelogen: Spätestens 1945 hat man Deutschland in der Trümmerwüste tatsächlich nicht mehr wiederzuerkennen vermocht. Viel schlimmer war jedoch, dass die moralische Substanz der Deutschen vollständig zerstört war. Das vermeintliche "Volk der Dichter und Denker" hatte zig Millionen Tote auf dem Gewissen.

Wir müssen uns gegen die Rattenfänger und Hassprediger wehren, die die Gesellschaft in ein Wolfsrudel verwandeln wollen. Dass 2019 wieder Faschisten gewählt werden, ist absolut unbegreiflich. Lassen Sie sich nicht verführen! In diesem Sinne wünsche ich allen ein gutes neues Jahr.