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17. Januar 2020, von Michael Schöfer
Widerspruchslösung moralisch nicht inakzeptabel


Nehmen wir an, die absolute Zahl der Airbags in fabrikneuen Autos wäre - warum auch immer - begrenzt. Alles in allem gäbe es daher in Deutschland bloß 47 Mio. Airbag-Ausstattungen, obgleich hierzulande 47,1 Mio. Pkw zugelassen sind. Dementsprechend müssten 100.000 Autofahrer ohne Airbag auskommen, was bei einem Unfall schlimme Folgen haben könnte. Doch es gibt zum Glück eine einfache Lösung des Knappheitsproblems: Autofahrer, deren Fahrzeug verschrottet wird, könnten ihren gebrauchten Airbag an andere Autofahrer weitergeben - zumindest sofern sie vorher der Ersatzteilspende zustimmen. Machen aber die wenigsten, weshalb von den 100.000 Autofahrern auf der Airbag-Warteliste jährlich 900 bei einem Unfall sterben.

Gewiss, dieses Beispiel hinkt ein bisschen, verdeutlicht aber durchaus die absurde Situation bei der Organspende. In Deutschland sterben laut Süddeutscher Zeitung pro Jahr rund 900 Menschen, weil sie vergeblich auf ein Spenderorgan gewartet haben. Grund: Es gibt zu wenig Spender. Dennoch hat der Deutsche Bundestag die Widerspruchslösung (wer nicht aktiv widerspricht, gilt als Organspender), die von Abgeordneten um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vorgelegt wurde, mit großer Mehrheit abgelehnt (292 dafür, 379 dagegen, drei Enthaltungen). Stattdessen fand die von Abgeordneten um Annalena Baerbock (Grüne) vorgelegte Zustimmungsregelung eine deutliche Mehrheit (432 dafür, 200 dagegen, 37 Enthaltungen).

Künftig gilt: "Mit dem neuen Gesetz sollen Bürger mindestens alle zehn Jahre direkt auf das Thema angesprochen werden. Wer ab dem Alter von 16 Jahren einen Personalausweis beantragt, ihn verlängert oder sich einen Pass besorgt, soll auf dem Amt Informationsmaterial bekommen. Beim Abholen soll man sich dann vor Ort oder auch später zu Hause in ein neues Online-Register eintragen können - mit Ja oder Nein. Selbst beraten sollen Ämter ausdrücklich nicht." [1] Auch Hausärzte sollen ihre Patienten bei Bedarf alle zwei Jahre ergebnisoffen über Organspenden informieren und zum Registrieren ermuntern. Eine Pflicht, sich zu entscheiden, gibt es freilich keine. Organe dürfen bei Verstorbenen nur entnommen werden, wenn sie vorher ausdrücklich zugestimmt haben. Ist ihr Wille nicht bekannt, sind wie bisher die Angehörigen zu fragen.

Immerhin will man nach ein paar Jahren überprüfen, ob sich die Spendenbereitschaft positiv entwickelt hat. Das heißt aber auch: Falls nicht, sterben weiterhin Menschen, weil zu wenig Spenderorgane zur Verfügung stehen. Und was dann? Die Widerspruchslösung wäre nicht nur sofort in Kraft getreten, sie hätte im Gegensatz zur Zustimmungsregelung auch rasch für eine Erhöhung der Transplantationen gesorgt. Sicherlich, der Mensch, da hat Annalena Baerbock vollkommen recht, gehört nicht dem Staat, er gehört sich selbst. Doch trifft das auch auf Tote zu? Darüber kann man geteilter Meinung sein. Vor allem dann, wenn durch die Organentnahme anderen Menschen das Leben gerettet wird. Zumal bei der Widerspruchslösung jeder der Organentnahme aktiv hätte widersprechen können.

Karl Lauterbach (SPD) brachte es auf den Punkt: "Es ist unethisch, ein Organ nehmen zu wollen, aber nicht bereit zu sein, zumindest Nein zu sagen, wenn ich nicht bereit bin, zu spenden. Das ist eine unethische Haltung (...). Das, was ich will, das mir selbst zugute kommt, muss ich auch bereit sein, anderen zu geben. Das ist in der Tradition der Aufklärung." [2] Lauterbach bezieht sich auf Immanuel Kants kategorischen Imperativ: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." 2024 wird man Kants 300. Geburtstag feiern, und bestimmt werden dann Politiker zahlreiche Lobreden auf den Königsberger Philosophen halten. Nur im Alltag hapert es halt nach wie vor gewaltig mit der Befolgung des kategorischen Imperativs.

Natürlich würde ich mich freuen, wenn die Zustimmungsregelung zu einer ausreichenden Versorgung mit Spenderorganen führen würde. Ich habe da bloß berechtigte Zweifel. Im Ergebnis werden deshalb weiterhin kranke Menschen sterben, die nicht sterben müssten. Ebenso wie hinter jedem Verstorbenen verzweifelte Angehörige stehen, stehen auch hinter jedem auf der Warteliste Stehenden verzweifelte Angehörige. Mit dem entscheidenden Unterschied: Erstere sind tot und bleiben es unausweichlich, Letztere könnte man jedoch vor einem allzu frühen Tod bewahren. Ist angesichts dessen die Widerspruchslösung moralisch wirklich inakzeptabel? In meinen Augen nicht.

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[1] Süddeutsche vom 16.01.2020
[2] Die Welt-Online vom 16.01.2020