Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



19. Oktober 2019, von Michael Schöfer
Sie können sich nicht in die Armen hineinversetzen


Getreu dem Diktum von Karl Marx ("Das Sein bestimmt das Bewusstsein") können sich die Wohlhabenden nur schwer in das Leben der Armen hineinversetzen. Und dann wundert man sich, wenn die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auferlegte Streichung der Treibstoff-Subventionen in Ecuador einen Aufstand auslöst. Das mag vielleicht dem Staatshaushalt helfen, aber wer hilft anschließend den Armen beim Überleben? Darüber machen sich die Damen und Herren keine Gedanken. Das Gleiche in Argentinien: Nachdem der konservative Präsident Mauricio Macri mit seiner liberalen Wirtschaftspolitik krachend gescheitert ist, müssen wohl die Armen erneut die Zeche zahlen. Argentinien bekommt zwar einen Milliardenkredit vom IWF, doch dessen Auflagen dürften zu Rentenkürzungen, Entlassungen im öffentlichen Dienst sowie Sparmaßnahmen im Gesundheits- und Bildungssystem führen. Die ohnehin grassierende Armut wird sich dadurch weiter verschärfen. Macri ist Millionär, die scheidende IWF-Chefin Christine Lagarde gehört ebenfalls zu den Besserverdienenden. Kein Wunder, dass die Auflagen des IWF nie die Vermögen- und Erbschaftssteuer erhöhen, sondern stets am unteren Ende der Gesellschaft ansetzen. Einkommen und Vermögen sind in Ecuador und Argentinien wesentlich ungleicher verteilt als in Deutschland, trotzdem werden die Reichen verschont. Die Armen können sich eben schlechter wehren - es sei denn, sie proben wie in Ecuador den Aufstand. Die strukturelle Gewalt (Johan Galtung) der Reichen schlägt dann in physische Gewalt der Armen um. Christine Lagarde wird demnächst Präsidentin der EZB. Ob ihre Geldpolitik die sozialen Gegensätze verschärft oder mildert, bleibt abzuwarten. Wenn man sich das Wirken des IWF ansieht, verspricht ihre Amtsübernahme nichts Gutes.