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01. Februar 2020, von Michael Schöfer
Letztlich steht auch die politische Stabilität zur Disposition


Inzwischen erheben immer mehr Banken und Sparkassen Negativzinsen, mitunter schon ab dem ersten Euro. "Rund 190 Geldhäuser kassieren mittlerweile Negativzinsen, davon knapp 90 Institute im Privatkundenbereich." [1] Die geldpolitischen Beschlüsse der EZB erreichen spätestens jetzt den Normalsparer. "Negativzins und Verwahrungsgebühren werden auf breiter Front kommen, wenn die Marktverhältnisse so bleiben, wie sie sind", prophezeit Martin Hettich, Vorstandsvorsitzender der Sparda-Bank Baden-Württemberg. [2] Für ihn steht mittlerweile "die Stabilität des Marktes auf dem Spiel".

Dass die EZB nach der Finanzkrise 2007/2008 mit ihrer Niedrigzinspolitik den Euro zunächst gerettet hat, steht außer Frage. Wir haben ihr viel zu verdanken, doch inzwischen muss man an der Weisheit ihrer Geldpolitik zweifeln. Im September 2019 teilte die Europäische Zentralbank mit, dass sie die Einlagefazilität (das, was Banken der EZB zahlen müssen, wenn sie kurzfristig bei ihr Geld parken, vulgo den "Strafzins") auf 0,5 Prozent erhöht. Gleichzeitig kündigt sie an, den Ankauf von Vermögenswerten wieder aufzunehmen, und zwar in einem monatlichen Umfang von 20 Mrd. Euro. [3] Darunter fallen Staatsanleihen, von supranationalen europäischen Institutionen begebene Wertpapiere, Unternehmensanleihen, forderungsunterlegte Wertpapiere und gedeckte Schuldverschreibungen.

Das private Geldvermögen der Deutschen steigt weiter, es soll inzwischen 6,6 Billionen Euro betragen - davon rund 1,8 Billionen Euro in Form von Sichteinlagen bei Kreditinstituten. [4] Doch je mehr die Deutschen auf den Sparkonten horten, desto mehr Strafzinsen müssen die Banken an die EZB zahlen. Natürlich könnten die Banken das Geld auch ausleihen, aber der Bedarf an Krediten ist offenbar begrenzt. Die Geldvermögensbildung der Privathaushalte stieg jedenfalls laut Bundesbank am Ende des dritten Quartals 2019 gegenüber dem Vorjahresquartal stärker als deren Verbindlichkeiten, es wird daher in der Relation mehr Geld gebunkert als ausgeliehen. [5]

Auch die Unternehmen schwimmen buchstäblich in Liquidität. "Deutsche Unternehmen halten zu viel Liquidität", sagt beispielsweise Martin Dresp, Analyst bei LBBW Research. "Die Hälfte der dazu befragten 270 Unternehmer und Führungskräfte hält nach eigener Aussage ausreichend Liquidität, 7 Prozent wollen sie sogar abbauen. Das spricht dafür, dass einige Unternehmen derzeit eher zu viel als zu wenig Liquidität halten." [6] Und das sind keineswegs bloß Großkonzerne, auch der Mittelstand hat ordentlich Geld auf der hohen Kante. "Viele Unternehmen haben in den vergangen Jahren gut verdient und schieben nun einen hohen Bestand an Liquidität vor sich her." [7] Und wer viel hat, braucht weniger auszuleihen.

Da kommt man sich vor wie im finanzpolitischen Tollhaus: Die EZB will mit dem Strafzins die Kreditvergabe der Banken antreiben, kauft aber zugleich Unternehmensanleihen auf, die wiederum den Kreditbedarf der Unternehmen verringern. Sie macht den Banken also Konkurrenz. Anders formuliert: Die EZB tritt gleichzeitig auf das Gas- und das Bremspedal. Kuriose Konsequenz: Erfolgreiche Unternehmen mit guter Liquidität werden bestraft, weil sie unter den Negativzinsen der Banken leiden, wenig profitable Unternehmen jedoch durch die Niedrigzinsen künstlich am Leben erhalten. Die Gesetze der Ökonomie werden dadurch gewissermaßen auf den Kopf gestellt.

Und der durch das Tohuwabohu verwirrte Kleinsparer fragt sich ernsthaft, wo er als solcher überhaupt noch willkommen ist. Wer zu wenig hat, um es in Immobilien anzulegen, hat kaum Alternativen. Obendrein führte die Niedrigzinspolitik zum rasanten Anstieg der Immobilienpreise, Normalverdiener können von den eigenen vier Wänden häufig nur noch träumen. Wer beim Vermögensaufbau nicht auf die volatilen Aktienmärkte setzen will, fühlt sich zunehmend unter Druck. Einerseits zu arm zum Immobilienerwerb, andererseits nicht arm genug, um den Negativzinsen zu entgehen. Früher galt Sparen noch als Tugend, heute winken dagegen viele Banken bei der Eröffnung eines Tagesgeldkontos genervt ab. Motto: "Geld? Brauchen wir nicht, haben wir eh schon mehr als genug." Tagesgeldkonten gibt es deshalb oft nur noch im Paket mit anderen Produkten, etwa in Verbindung mit der Eröffnung eines Girokontos (sprich dem Wechseln der Bank).

Die EZB sollte angesichts dessen dringend ihre Geldpolitik überdenken. Wenn die Stabilität des Finanzmarktes tatsächlich auf dem Spiel steht und die untere Mittelschicht durch Inflation und neuerdings auch Negativzinsen ihre Spargroschen wie Butter in der Sonne dahinschmelzen sieht, steht letztlich die politische Stabilität zur Disposition. Und an der krankt es ja jetzt schon.

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[1] Biallo.de vom 20.01.2020
[2] Sparda-Bank BW vom 23.01.2020
[3] Deutsche Bundesbank, Pressemitteilung der EZB vom 12.09.2019, PDF-Datei mit 28 Kb
[4] tagesschau.de vom 02.01.2020
[5] Deutsche Bundesbank vom 17.01.2020
[6] LBBW
[7] Handelsblatt vom 11.12.2019