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15. Februar 2020, von Michael Schöfer
Das Kandidaten-Schaulaufen


"Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind." (Kohelet)

Bei einer Umfrage von Infratest dimap für den ARD-DeutschlandTrend waren 40 Prozent der Befragten der Meinung, dass Friedrich Merz, der 64-jährige Hoffnungsträger der CDU, ein guter Kanzlerkandidat wäre. Er bekam damit mehr Zuspruch als seine mutmaßlichen Konkurrenten Armin Laschet (30 %) und Jens Spahn (24 %). Bei den Anhängern der Union ist der Vorsprung von Merz erwartungsgemäß noch deutlicher. Allerdings waren auch 42 Prozent der Befragten der Ansicht, Merz wäre KEIN guter Kanzlerkandidat. [1] Es scheint also innerparteilich alles auf Friedrich Merz hinauszulaufen. Doch ob eine Kanzlerkandidatur von Merz am Ende auch auf einen Kanzler namens Merz hinausläuft, ist fraglich. Merz' Kanzlerkandidatur wird sicherlich kein Selbstläufer.

Der Hoffnungsträger tritt gerne in Fettnäpfchen: "Wenn ich dazu beitragen kann, dass dieses Gesindel wieder verschwindet, dann leiste ich diesen Beitrag dazu, dass wir das hinkriegen, um das mal ganz klar und deutlich zu sagen", bekundete er auf einer Veranstaltung. Mit "Gesindel" meinte er anscheinend, zumindest haben es viele so aufgefasst, die AfD. [2] Doch schon einen Tag danach muss er klarstellen, er habe damit "natürlich keineswegs gewählte Abgeordnete oder Wählerinnen und Wähler irgendeiner Partei gemeint", seine Äußerung sei vielmehr auf Rechtsradikale und gewaltbereite Demonstranten gemünzt gewesen. [3] "Klar und deutlich" war seine Äußerung nicht, denn sonst hätte es keiner Klarstellung bedurft. Wie dem auch sei, jedenfalls sprach er bereits 2018 davon, die Wählerschaft der AfD halbieren und für die CDU zurückgewinnen zu können. [4] Was er allerdings bislang verschweigt, ist, wie er das zu tun gedenkt. Merz lebt vor allem von seinem Bierdeckel-Mythos (die Steuererklärung müsse auf einen Bierdeckel passen), seiner angeblichen Wirtschaftskompetenz und der sorgsam gepflegten Gegnerschaft zu Angela Merkel.

Doch anstatt konkrete Lösungen vorzulegen kommt Merz ins Schwärmen: "Deutschland ist ein phantastisches Land. Wir leben in einem der schönsten, wohlhabendsten und sozialsten Länder der Welt. Wir haben eine stabile Demokratie und eine weitgehend offene und tolerante Gesellschaft, in der die meisten Menschen in diesem Land gern und zufrieden leben. Es geht den Deutschen ganz überwiegend richtig gut", begeisterte sich Merz in seiner Deutschland-Rede zum 6. Ludwig-Erhard-Gipfel am 17. Januar 2020 in Rottach-Egern. [5] Ob Begeisterung allein ausreicht? Vermutlich nicht. Vor allem, wenn die Menschen, siehe etwa die miserable Lage auf dem Wohnungsmarkt, einen grundlegend anderen Eindruck haben? Oder wissen Sie auf Anhieb, wie Merz bezahlbaren Wohnraum schaffen will? Es ist ja keineswegs damit getan, den Rechtskonservativen in der Union wieder eine Heimat zu bieten.

Ein anderes Beispiel: Die Klimaschutzziele seien "nur mit wirklich marktwirtschaftlichen Instrumenten zu erreichen", aber dazu dürfe man nicht mehr national, sondern müsse europäisch denken. "Europäisch denken müssen wir auch in der Gestaltung der Digitalisierung. Die Digitale Infrastruktur, Plattformtechnologien und die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz erfordern einen so hohen Mitteleinsatz, den wir allein nicht bewältigen können. Konkret: Wir brauchen europäische Unternehmen der Digitalwirtschaft, europäische Cloud-Lösungen, europäische Standards in der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz und zwar bald, wenn wir den Anschluss an die amerikanischen und chinesischen Unternehmen nicht endgültig verlieren wollen." [6] Wir brauchen… Aber schwadroniert nicht Angela Merkel schon seit Jahren über die notwendige Digitalisierung, ohne dass dies zu einer Änderung der beklagenswerten Situation in Deutschland geführt hat? In puncto Digitalisierung ist Deutschland nämlich bloß Mittelmaß. Was er konkret anders machen will, außer ebenfalls zu schwadronieren? Da bleibt Merz lieber im Vagen.

Als es im Dezember 2018 auf dem Bundesparteitag der CDU in Hamburg um den Parteivorsitz ging, hätte er die Chance gehabt, endlich einmal präzise darzulegen, wofür er steht. Aber selbst dort blieb er ziemlich wolkig, forderte etwa eine "Agenda für die Fleißigen". Klingt gut, doch was die Agenda, die er vollmundig fordert, im Detail beinhaltet, sagte er bedauerlicherweise nicht. Merz forderte klare Positionen in Sachfragen und Antworten für die vorhandenen Probleme, nur blieb er sie den Parteitagsdelegierten schuldig. [7] Kein Wunder, dass Annegret Kramp-Karrenbauer damals in der Stichwahl mit 517 zu 482 Stimmen siegte.

Meiner Ansicht nach wird Friedrich Merz von seinen Anhängern überschätzt. Vielleicht überschätzt er sich auch selbst. Sie hören fasziniert, was Merz sagt, übersehen jedoch, was er dabei übergeht. Ein gefährlicher, aber für euphorische Fans durchaus charakteristischer Tunnelblick. Außerdem muss sich Merz, wie eingangs beschrieben, ziemlich oft korrigieren. Im November 2018 schreibt Die Welt über seinen Auftritt bei der CDU-Regionalkonferenz im thüringischen Seebach: "'Deutschland ist das einzige Land auf der Welt, in dem ein Individualrecht auf Asyl in der Verfassung verankert ist', sagt er. Wenn man aber eine europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik ernsthaft wolle, müsse auch offen darüber geredet werden, ob dieses Asylgrundrecht 'in dieser Form fortbestehen' könne." [8] Merz wird dadurch laut Welt zum "Mann des Abends". Nach heftiger Kritik ruderte er aber bereits einen Tag danach wieder zurück: "Für alle Interessierten noch einmal zum Mitschreiben: Ich bin für die Beibehaltung des Grundrechts auf Asyl. Punkt." [9] Äußerungen von Merz haben gelegentlich eine Halbwertszeit von Stunden.

2018 beklagte Merz auf dem CDU-Bundesparteitag: "Unsere Umweltpolitik, darf ich das so offen sagen, ist voller Widersprüche. Wir sind in den Kosten für Energiewende und Umweltschutz Weltmeister. Aber wir sitzen in Kattowitz in der Gruppe der ökologischen Schlusslichter in der letzten Reihe." [10] Hinweis: In Kattowitz fand 2018 die UN-Klimakonferenz statt. Im Gegensatz dazu meint er neuerdings: "Deutschland ist nicht nur ein wirtschaftlich erfolgreiches und politisch stabiles Land. Wir sind auch im Klimaschutz auf dem richtigen Weg." [11] Ja, was gilt denn nun? Schlusslicht oder auf dem richtigen Weg? Missverständnisse zu erzeugen fällt Friedrich Merz erkennbar leicht.

Die große Gefahr für die CDU ist, bei einer konservativen Rückbesinnung rechts weniger zu gewinnen, als sie anschließend in der Mitte verliert. Deutschland hat sich mittlerweile verändert, es ist anders als zu Merz' politisch aktiven Zeiten. Wer, außer den Rechtskonservativen, sehnt sich denn bitteschön nach Alfred Dregger oder Manfred Kanther zurück? Da ist die Enttäuschung doch vorprogrammiert. Früher setzte sich der jetzige Hoffnungsträger für Deregulierungen und Privatisierungen ein, er plädierte für Kürzungen von Sozialleistungen und befürwortete Gentechnologie und Kernkraft. Ist die CDU von 2020 wirklich mit den Rezepten der CDU der Jahrtausendwende zu retten? Daran darf man mit Fug und Recht zweifeln.

Die Menschen haben andere Prioritäten. In den Großstädten sind inzwischen die Grünen stärkste Partei: "Bei einer Bundestagswahl läge die Union in kleinen Gemeinden unter 5000 Einwohnern bei 32 Prozent, die Grünen nur bei 18 Prozent. In Großstädten mit über einer halben Million Einwohner hingegen würden nur 23 Prozent der Befragten CDU oder CSU wählen und 27 Prozent die Grünen." [12] Die CDU verliert die Städte, hat aber keine adäquaten Antworten auf die dortigen Probleme, beispielsweise die Verkehrs- oder Wohnungsbaupolitik. Auch Merz liefert sie nicht. Die AfD vertritt die anachronistische Ansicht "Freie Fahrt für freie Bürger!" und übernimmt damit den Slogan einer ADAC-Kampagne von 1974, den heute nicht einmal mehr der ADAC selbst verwenden würde. Wie Merz AfD-Wähler zurückholen, aber gleichzeitig auch junge Mütter, die Angst um die Gesundheit ihrer Kinder haben, nicht weiterhin an die Grünen verlieren will, ist eine spannende Frage. Weiß Merz darauf schon eine plausible Antwort? Über eine konservative Rückbesinnung dürften deshalb bloß die Konservativen jubeln. Ob die CDU damit in der Bevölkerung auf Zustimmung stößt, steht auf einem anderen Blatt. Es ist ein Trugschluss zu glauben, die Menschen würden mehrheitlich noch so denken, wie es die lautstarke Minderheit tut.

Außerdem: Wenn, wie Merz bestätigt, Noch-CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrer Auffassung recht hat, dass Parteivorsitz und Kanzlerschaft in eine Hand gehören, was bedeutet das für Angela Merkel? Die nächste reguläre Bundestagswahl ist erst im Herbst 2021. Und die SPD hat bereits betont, keinen anderen Kanzler zu wählen, ein konstruktives Misstrauensvotum gemäß Artikel 67 Grundgesetz ist somit außer Reichweite. Der Weg über eine Vertrauensfrage (Artikel 68 GG), die zu Neuwahlen führen kann (aber nicht muss), ist mit Unsicherheiten gepflastert. Schließlich kann niemand Merkel zwingen, sie überhaupt zu stellen. Am wenigsten, wenn Friedrich Merz ihr Nachfolger werden soll. Die SPD wiederum könnte Merkel, selbst wenn sich die Kanzlerin dennoch dazu durchringt, kurzerhand das Vertrauen aussprechen. Ausschlaggebend ist bekanntlich die Verfassung, nicht das, was der neue CDU-Parteivorsitzende, egal wie er nun heißen mag, gerne hätte. Und eine CDU, die ihre nach wie vor beliebte Kanzlerin stürzt, falls sie dazu im Deutschen Bundestag eine Mehrheit findet, dürfte mit einer schweren Hypothek in den anschließenden Wahlkampf gehen.

Wir erleben derzeit mächtig viel Ego und jede Menge Eitelkeit, die ostentativ zur Schau getragene Bescheidenheit ist wahrscheinlich nur gespielt und soll lediglich zur Beruhigung des Publikums beitragen. Anders ausgedrückt: Mehr Schein als Sein. Was dabei bedauerlicherweise auf der Strecke bleibt, sind die wesentlich bedeutsameren Sachfragen. In der Union hieß es stets: "Erst das Land, dann die Partei, dann die Person." Momentan hat man den nicht unberechtigten Eindruck, dass es in Wahrheit genau umgekehrt ist.

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[1] tagesschau.de vom 13.02.2020
[2] tagesschau.de vom 14.02.2020
[3] t-online.de vom 14.02.2020
[4] Die Welt-Online vom 14.11.2018
[5] Website von Friedrich Merz, Denk ich an Deutschland in der Nacht - 10 Thesen zur Lage der Nation
[6] Website von Friedrich Merz, Denk ich an Deutschland in der Nacht - 10 Thesen zur Lage der Nation
[7] YouTube-Video, Bewerbungsrede von Friedrich Merz auf dem CDU-Parteitag in Hamburg am 07.12.2018
[8] Die Welt-Online vom 22.11.2018
[9] Die Welt-Online vom 22.11.2018
[10] YouTube-Video, Bewerbungsrede von Friedrich Merz auf dem CDU-Parteitag in Hamburg am 07.12.2018, ab 8:55 Min. (weil sich Merz an dieser Stelle verhaspelt, ist sie nur nach mehrmaligem Hören zu deuten)
[11] Website von Friedrich Merz, Denk ich an Deutschland in der Nacht - 10 Thesen zur Lage der Nation
[12] Die Welt-Online vom 18.01.2020