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01. März 2020, von Michael Schöfer
Wahlrecht nur für Leistungsträger?


Markus Krall, Volkswirt, Autor und Geschäftsführer der Degussa Goldhandel GmbH, war vor kurzem bei der sächsischen AfD eingeladen, um seine Thesen vorzustellen. Was er da präsentiert hat, ist in meinen Augen höchst skurril. Nicht alles, aber das meiste. Deutschland sei nur noch ein halbfreies Land, behauptet Krall. Und wie will er die verlorengegangene Freiheit wieder vollständig herstellen? Nun, etwa indem er das Wahlrecht auf die "Leistungsträger" beschränkt. Doch das ist eindeutig verfassungswidrig. "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich", garantiert das Grundgesetz in Artikel 3. Und: "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt." (Artikel 38) Krall stellt die Wahlgleichheit der Bürger zur Disposition und bezeichnet das merkwürdigerweise auch noch als Freiheit. Es ist aber das Gegenteil davon.

Wörtlich sagt er in seinem Vortrag: "Wir brauchen eine Reform des Wahlrechts. (...) Ich glaube, dass jeder am Anfang der Legislaturperiode eine Wahl treffen sollte, nämlich entweder zu wählen, also das Wahlrecht auszuüben, das er hat, oder Staatstransfers zu bekommen. Also wer Subventionen kriegt, der darf nicht wählen. Und wer andere Arten von Transfers kriegt, darf auch nicht wählen, in dem System. Nur der, der einzahlt ins System, darf wählen. Oder der, der wenigstens nichts draus entnimmt, darf wählen. (...) Warum nicht? Weil er sonst über die Mittelverwendung zu seinen eigenen Gunsten mitentscheidet. Das nennt man unter normalen Umständen Korruption. Das erfüllt die Definition von Korruption. Das Gleiche gilt natürlich auch für das passive Wahlrecht." [1]

Das ist in hohem Maße undemokratisch und widerspricht der urdemokratischen Losung "one man, one vote". Es erinnert vielmehr ans Dreiklassenwahlrecht, das im Königreich Preußen von 1849 bis 1918 gegolten hat. Wer damals Empfänger der öffentlichen Armenunterstützung war, durfte nämlich nicht wählen. Doch Krall weitet das pauschal auf alle Empfänger staatlicher Leistungen aus. Nimmt man ihn wirklich ernst, dürften nicht bloß Sozialhilfe-, Wohngeld- und Arbeitslosengeldempfänger nicht mehr wählen, sondern auch die Chefs von Firmen, die Subventionen erhalten. So sagt er klar und deutlich, dass dann beispielsweise auch Joe Kaeser vom Wahlrecht ausgeschlossen wäre, weil Siemens in den letzten Jahren 300 Millionen Subventionen entgegengenommen habe. Dass der Vorstandsvorsitzende von Siemens juristisch gesehen nur ein Angestellter seiner Firma ist, die Eigentümer sind bekanntlich die Aktionäre, übergeht er völlig. Solche Details zerstören die schönste Ideologie.

Außerdem: Wenn die Bürger per Wahlrecht über die Verwendung ihrer Steuergelder mitentscheiden und bei diesem System der Umverteilung einen Teil davon zurückbekommen, ist das noch lange keine Korruption. Es ist eine Binse: Steuern steuern. Anders ausgedrückt: Der Staat, mithin die Gesellschaft als Ganzes, entscheidet, was er besonders fördern will. Wenn beispielsweise Eltern als Steuerzahler für den Bau und den Unterhalt von Kitas, Kindergärten, Schulen und Universitäten sorgen, dürfen sie davon auch profitieren. Oder sind Eltern, die ihre Kinder in die kostenfreie Kita schicken, tatsächlich korrupt, weil die Kita mit Steuergeld finanziert wird (in diesem Fall eine indirekte staatliche Transferleistung)?

Bei Krall werden genau besehen ziemlich viele vom Wahlrecht ausgeschlossen. Airbus gäbe es ohne Subventionen gar nicht, die Lufthansa profitiert von der Steuerbefreiung des Flugbenzins, die Betreiber von Wind- und Solaranlagen von der EEG-Umlage, Autokäufer bekommen für die Anschaffung von Elektroautos einen staatlichen Zuschuss, Dieselfahrer profitieren von der Steuervergünstigung ihres Treibstoffs. Bloß um ein paar Beispiele zu nennen. Und wie sieht es mit den Rentnern aus? Die haben zwar Beiträge bezahlt, erhalten aber via Bundeszuschuss zur Rentenversicherung dennoch Steuergelder. Sparer profitieren vom Sparerfreibetrag, Arbeitnehmer vom Steuerfreibetrag. Am Ende fragt man sich, wer denn überhaupt noch wählen dürfte. Da bleiben nicht mehr allzu viele übrig. Vielleicht nicht einmal Kralls Zuhörer von der sächsischen AfD, Parteien sind nämlich ebenfalls Empfänger staatlicher Leistungen. Bis zu welcher Ebene (Bundes-, Landes-, Kreis- oder Ortsverband) man Parteimitgliedern das Wahlrecht vorenthalten sollte, sagt er allerdings nicht. Vermutlich deshalb, weil dann wohl auch dem unbedarftesten AfD-Mitglied die Absurdität von Kralls Vorschlag aufgefallen wäre.

Sieht man es so wie Krall, wäre Demokratie im Grunde unmöglich. Und wie unter solch restriktiven Vorgaben eine komplexe, vielfach vernetzte Volkswirtschaft funktionieren soll, bleibt sein gut gehütetes Geheimnis. Bei einem gelernten Volkswirt ist das schon erstaunlich.

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[1] YouTube, Markus Krall in Olbernhau: Wer rettet Europa?, ab 20:14 Min.