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18. März 2020, von Michael Schöfer
Heilung oder multiples Organversagen?


Taiwan hat die Coronakrise recht schnell in den Griff bekommen, bislang gibt es dort nur 100 bestätigte Infizierte, wovon lediglich einer gestorben ist. [1] Die niedrigen Fallzahlen sind vor allem zwei Maßnahmen zu verdanken: Erstens einem frühzeitigen Einreiseverbot für Menschen aus China, Hongkong und Macau, und zweitens der konsequenten Untersuchung der Bevölkerung. Auch Südkorea hatte mit flächendeckenden Tests Erfolg bei der Eindämmung des Virus. Bis zum 10. März wurden in Südkorea (52 Mio. Ew.) 210.144 Tests durchgeführt, in Italien (60 Mio. Ew.) hingegen waren es bloß 60.761. [2] Die Europäer haben den Zeitpunkt, an dem ein frühzeitiges Eingreifen noch Erfolg gehabt hätte, leider verpasst. Das Einreiseverbot für Nicht-EU-Bürger gibt es erst seit heute, zur Zeit wächst deshalb die Anzahl der Infizierten in der EU exponentiell (lineares Wachstum = 2, 4, 6, 8, 10 usw., exponentielles Wachstum = 2, 4, 8, 16, 32 usw.).

Doch wie gefährlich ist Corona wirklich? Darüber sind sich die Wissenschaftler uneins. In Taiwan (1 Toter auf 100 bestätigte Infizierte) und Südkorea (84 Tote auf 8.413 bestätigte Infizierte) liegt die Mortalitätsrate bei einem Prozent. In Deutschland sind bislang 27 Menschen von 10.082 bestätigten Infizierten am Coronavirus gestorben = eine Mortalitätsrate von 0,27 Prozent. In Italien liegt sie jedoch bei erschreckenden 7,9 Prozent (2.503 Tote auf 31.506 bestätigte Infizierte), weshalb man dort von einer extrem hohen Dunkelziffer ausgeht. Je höher die Dunkelziffer, also die Anzahl der tatsächlich Infizierten (im Gegensatz zu den bestätigten Infizierten), desto niedriger die Mortalitätsrate. Die Dunkelziffer lässt sich aber nur schwer abschätzen. Ist sie zehnmal höher als die bestätigten Infizierten, ist die Mortalitätsrate von Corona vergleichsweise gering: normale Grippewelle 0,1 bis 0,2 Prozent, bei der Spanischen Grippe 1918-1920 wird sie auf über 2,5 Prozent geschätzt.

Die verspäteten Maßnahmen der Europäer sind dafür umso drastischer: In etlichen EU-Ländern (Italien, Frankreich, Spanien, Belgien, Österreich, Tschechien) gibt es mittlerweile eine Ausgangssperre, die das öffentliche Leben nahezu vollständig zum Erliegen gebracht hat (Lockdown). In Deutschland gibt es zwar noch keine Ausgangssperre, aber es dürfen bloß noch ausgewählte Geschäfte öffnen. Gewährleistet wird nur noch die Grundversorgung. Für die Wirtschaft hat dies verheerende Konsequenzen, es droht ein massiver Einbruch des Bruttoinlandsprodukts und ein drastischer Anstieg der Arbeitslosigkeit. Brechen die Banken zusammen, etwa weil Italien pleitegeht, wird man die Coronakrise noch auf Jahre oder sogar Jahrzehnte hinaus spüren.

Jetzt hören wir wieder die üblichen Beschwichtigungen: "Kein Unternehmen, egal welcher Größe, wird dem Risiko einer Pleite ausgeliefert", verspricht der französische Präsident Emmanuel Macron. [3] Die Regierung des liberalen Politikers schließt sogar Verstaatlichungen keineswegs aus. Die Welt werde nach der Coronakrise nicht mehr so sein wie zuvor, die Globalisierung müsse anders gestaltet werden. Doch daran, dass die Welt nach der Coronakrise wirklich nicht mehr so sein wird wie zuvor, gibt es berechtigte Zweifel. In Krisen verspricht die Politik nämlich viel, was sie allerdings später gerne wieder vergisst. "Kein Finanzmarkt, kein Finanzakteur und kein Finanzprodukt darf unbeaufsichtigt bleiben", hieß es beispielsweise nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008. Doch der hehre Anspruch blieb uneingelöst, teilweise wurden sogar bereits beschlossene Regulierungen wieder zurückgenommen. Die seinerzeit versprochene Finanztransaktionssteuer? Selbst ein Jahrzehnt nach der Finanz- und Wirtschaftskrise immer noch nicht Realität. Wenn nun Macron verspricht, das zu retten, was durch die Bekämpfung des Coronavirus zerschlagen wird, sollte man skeptisch sein.

Der Versuch, die Ausbreitung des Virus zu verhindern, um die Intensivstationen in den Krankenhäusern nicht zu überlasten, ist durchaus nachvollziehbar. Allerdings ist auch die Frage berechtigt, ob die restriktiven Maßnahmen verhältnismäßig sind. Vielleicht kann man die Ausbreitung des Virus stoppen, aber unter Umständen kollabiert dabei unsere Wirtschaft. Mit anderen Worten: Um eine - siehe oben - vergleichsweise harmlose Erkrankung zu bekämpfen, wählen wir eine Therapie, die womöglich zu multiplem Organversagen führt. Manche halten daher die Maßnahmen für total überzogen, weil sie zusammengenommen wesentlich mehr Schaden verursachen, als es das Coronavirus vermocht hätte. Das Problem dabei: Schlauer ist man erst hinterher.

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[1] Johns Hopkins University, COVID-19 Map, abgerufen am 18.03.2020, 15:50 Uhr
[2] Spiegel-Online vom 12.03.2020
[3] Süddeutsche vom 17.03.2020