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20. April 2020, von Michael Schöfer
Sorgen um die Wirtschaft sind nicht verwerflich


Schon seit einiger Zeit wird Kritikern der Kontakteinschränkungen vorgeworfen, sie würden Menschenleben gegen die Belange der Wirtschaft aufrechnen, und das sei aus ethischen Gründen unzulässig, ja geradezu verwerflich. Vom hohen moralischen Ross herunter schallt es einem entgegen: "Wie viele Menschenleben wäre Ihnen die rasche Öffnung von Restaurants wert? Wie viele Menschenleben die Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen? Wie viele Menschenleben die Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen in zwei Wochen statt in drei Wochen?" [1] So bugsiert man den Gegner in eine schier ausweglose Sackgasse hinein, denn wer würde darauf schon mit "10.000 Tote nehme ich für die Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen in Kauf" antworten? Keiner!

Lassen Sie mich meine Zerrissenheit mit Goethe ausdrücken: "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust."

Das Recht auf Leben hat zweifelsohne einen hohen Stellenwert, wenngleich dieser in jeder Gesellschaft durchaus relativiert wird, siehe etwa in Deutschland beim Verzicht auf ein generelles Tempolimit auf Autobahnen. Beim Tempolimit steht dem Recht auf Leben faktisch das (vermeintliche) Recht des Bürgers auf schnelles Fahren im Weg. Oder mit den Worten von Andreas Scheuer formuliert: Ein generelles Tempolimit auf Autobahnen wäre "gegen den gesunden Menschenverstand". Ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt. Vorerst neigt sich jedenfalls die Waagschale noch zugunsten der "freien Fahrt für freie Bürger". Und keiner denkt daran, trotz weltweit jährlich 1,35 Mio. Verkehrstoten, das Autofahren zu verbieten. Es ist daher stets ein Abwägungsprozess zwischen den Vor- und den Nachteilen, und das finden bislang die meisten ethisch akzeptabel.

Außerdem ist die Sorge um die Wirtschaft mindestens genauso berechtigt. Dabei geht es keineswegs bloß um das "Recht aufs Shoppen", wie einige in diffamierender Absicht behaupten. Immerhin sollen zum Beispiel dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband zufolge 70.000 Unternehmen, und damit jeder dritte Betrieb der Branche, kurz vor der Insolvenz stehen. [2] Auch die Reisebranche dürfte längere Zeit keine oder nur geringe Einnahmen generieren. Neben den Hoteliers trifft es die Reisebüros, Reiseveranstalter, Busunternehmen und Fluggesellschaften. Wird weniger geflogen, braucht man zudem weniger Flugzeuge, weshalb sich auch die Flugzeugbauer (Boeing, Airbus) auf magere Zeiten einstellen müssen. Daran hängen direkt oder indirekt zahlreiche private Existenzen, deren absehbarer Kaufkraftverlust sich negativ auf den Einzelhandel auswirkt, was wiederum noch mehr Existenzen gefährdet. Vom Bankensektor wegen den voraussichtlich massenhaft notleidenden Krediten ganz zu schweigen. So zieht in einer hochgradig vernetzten Wirtschaft eins das andere nach sich. Kein Pappenstiel also. Mit anderen Worten: Die Sicht der Virologen darf in der Corona-Pandemie nicht die einzig zulässige sein.

Der durch Corona verursachte Shutdown ist ein externer Schock, für den es keinen Präzedenzfall gibt. Und er ist vor allem deshalb so gefährlich, weil man die Wirtschaft in nahezu allen Industriestaaten gleichzeitig heruntergefahren hat. Die entscheidende Frage ist, wie man aus dem simultan begonnenen Shutdown wieder herauskommt. Stichwort: Lieferketten. Wie abhängig etwa die Automobilindustrie vom Funktionieren der Lieferketten ist, demonstrierte vor ein paar Jahren der Produktionsfehler eines Gaspedals der britischen Luxusmarke "Aston Martin". Die Lieferkette des bruchgefährdeten Gaspedals bestand aus drei chinesischen Zulieferern und einem britischen Unternehmen. [3] Vier Zulieferer für ein läppisches Gaspedal. Wie komplex heutzutage der Autobau organisiert ist, kann man angesichts dessen zumindest erahnen.

Ein durchschnittliches Auto wird aus rund 10.000 Einzelteilen zusammengebaut, und ungefähr 80 Prozent davon stammen von externen Zulieferern aus unterschiedlichen Ländern. Volkswagen verwendet laut dem Bundesverband der Deutschen Industrie für seine Fahrzeuge Teile von 42 Zulieferern aus 12 Ländern. [4] Ob das wirklich alle sind? Oder bloß die größten? Im Vergleich zu anderen Autobauern wäre die Anzahl der Zulieferer bei VW sogar überschaubar. "Der Hersteller Daimler arbeitet mit 213 direkten Zulieferern zusammen. Allein die 10 größten davon haben gemeinsam 588 Zulieferer, die ihrerseits von mehr als 2.900 weiteren Firmen abhängen." [5] Was uns bislang als Wettbewerbsvorteil präsentiert wurde (Outsourcing spart Kosten und erhöht die Flexibilität), entpuppt sich in der Coronakrise möglicherweise als unheilbringender Fallstrick. Es ist nämlich keineswegs klar, dass die simultan heruntergefahrenen Betriebe auch wieder simultan hochfahren können. Der Leitgedanke beim Outsourcing, wenn Zulieferer A nicht kostengünstig liefert, bestelle ich eben bei Zulieferer B, ist durch die Pandemie außer Kraft gesetzt worden, denn jetzt können womöglich beide nicht mehr liefern. Bei Zulieferer C und D steht die Lieferfähigkeit ebenfalls in Frage.

Mit den entsprechenden Konsequenzen, so legt Corona beispielsweise die Traktor-Fertigung lahm: "Bei John Deere in Mannheim ruht die Produktion (...) aufgrund fehlender Motoren. Das Deere-Motorenwerk im französischen Saran ist geschlossen. Betroffen ist auch die Kabinenfertigung in Bruchsal, wo die Produktion von Schlepperkabinen ebenfalls stillsteht." [6] Beim Traktorhersteller Same Deutz-Fahr in Lauingen steht die Produktion still, weil Achsen aus Italien fehlen. [7] Ohne Achsen kein Traktor - selbst wenn alle anderen Teile vorhanden sind. Eigene Lagerbestände? Unrentabel. Das war der Anreiz für die Just-in-time-Produktion. Zwangsläufige Folge: Es ist nicht ganz einfach, aus dem Shutdown wieder herauszukommen. Zu welchem Zeitpunkt sich die Produktion normalisiert, steht in den Sternen. Doch unabhängig davon, zum Angebot gehört - siehe oben - notwendigerweise auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Zum Funktionieren der Wirtschaft müssen beide zusammenkommen.

Kurzum, wer sich um die Wirtschaft sorgt, von deren Wohl wir alle abhängen, ist kein zynischer Misanthrop, sondern drückt lediglich Bedenken aus, die beim öffentlichen Diskurs derzeit ein bisschen untergehen respektive kleingehalten werden (Angela Merkel: "Öffnungsdiskussionsorgien"). Vielleicht findet man schon im nächsten Jahr einen Impfstoff gegen SARS-CoV-2, die Folgen der Corona-Pandemie auf die Wirtschaft werden wir möglicherweise noch viel länger spüren (das Bruttoinlandsprodukt der USA brauchte in der Zeit der Großen Depression immerhin sieben Jahre, um wieder das ursprüngliche Niveau von 1929 zu erreichen). Machen wir uns, wenn es schlecht läuft, auf eine lange Durststrecke gefasst.

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[1] ScienceBlogs vom 04.04.2020
[2] Spiegel-Online vom 19.04.2020
[3] Focus-Online vom 06.02.2014
[4] BDI vom 20.10.2015
[5] ingenieur.de vom 24.03.2020
[6] profi.de vom 25.03.2020
[7] BR vom 20.04.2020