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24. April 2020, von Michael Schöfer
Selbstgerechtigkeit ist kein charmanter Charakterzug


Irren ist menschlich. Wer sich noch nie geirrt hat, der werfe den ersten Stein. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des Coronavirus. Noch steht nicht fest, wie gefährlich es wirklich ist, das wird man wohl erst am Ende der Pandemie genau beurteilen können. Allerdings stehen wir mittendrin. Menschen vorzuwerfen, sie hätten das Virus anfangs unterschätzt, ist aus heutiger Sicht wohlfeil. Anders ausgedrückt: Hinterher ist man immer schlauer. Corona verlaufe milder als die Grippe, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 23. Januar in den Tagesthemen. Und am 28. Januar beruhigte er erneut die Bevölkerung, die Gefahr durch das neue Virus für die Gesundheit der Menschen bleibe weiterhin gering. [1] Hätte er schon zu diesem Zeitpunkt von einer gefährlichen Pandemie gesprochen und etwa den sofortigen Abbruch des Karnevals gefordert, hätte man ihm bestimmt unverantwortliche Panikmache vorgeworfen. Nun wirft man ihm eben nachträglich Verharmlosung vor. Menschen, die eine Krise persönlich miterleben, stehen naturgemäß weniger objektive Informationen zur Verfügung als den Historikern späterer Jahre. Dass Deutschland schlecht vorbereitet war, steht auf einem anderen Blatt, ist aber hauptsächlich Spahns Amtsvorgängern anzulasten. [2]

Doch es geht hier nicht um die Fehleinschätzungen der Politiker im Allgemeinen oder um den Wissensstand von Jens Spahn im Besonderen, sondern vielmehr um die himmelschreiende Selbstgerechtigkeit mancher Kritiker. Es geht um die, die immer recht haben, egal was kommt - selbst wenn sie sich widersprechen. Ein Beispiel: Jens Berger von den NachDenkSeiten kommentierte am 3. Februar eine Meldung, wonach sich nach Einschätzung von Experten in der Stadt Wuhan über 75.000 Menschen angesteckt haben könnten. Am Tag zuvor meldete China offiziell 14.300 Infizierte und 304 Tote. [3] Zum Vergleich: Der Johns Hopkins University zufolge gibt es in China bis dato 83.885 nachweislich Infizierte und 4.636 Tote. [4]

Jens Berger schreibt also an besagtem 3. Februar: "Wenn diese Zahlen stimmen sollten und die offiziellen Zahlen zu den Todesopfern, wo der Graubereich viel geringer sein sollte, ebenfalls stimmen, liegt die Sterblichkeitsrate im Bereich der Grippe, an der jedes Jahr nach WHO-Angaben zwischen 290.000 und 650.00 Menschen sterben. Da stellt sich die Frage, ob die harschen internationalen Reaktionen, wie beispielsweise die mittlerweile fast komplette Einstellung des Flugverkehrs, eine angemessene Reaktion sind?" [5] Will heißen: Corona ist nicht so gefährlich, die Maßnahmen daher völlig überzogen. Es ging übrigens Anfang Februar nur um die Einstellung des Flugverkehrs von und nach China, der gesamte internationale Flugverkehr wurde erst Mitte März sukzessive eingestellt.

Um nicht missverstanden zu werden: Der Ansicht von Jens Berger kann und darf man natürlich sein, und sie war zu diesem Zeitpunkt keineswegs unplausibel. Sie könnte sich sogar noch als richtig erweisen. Wie eingangs erwähnt, abgerechnet wird erst zum Schluss. Und keiner kann heute sagen, ob er in Bezug auf die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 recht oder unrecht hat. Vor allem, weil für die Sterblichkeit nicht bloß das Virus verantwortlich ist, sondern mindestens genauso der Zustand des Gesundheitssektors bzw. die Situation der Alten- und Pflegeheime in den jeweiligen Ländern.

Doch das, was Jens Berger heute, im Lichte der aktuellen Lage, dazu schreibt, ist unglaublich infam und in hohem Maße selbstgerecht: Am 23. April befasst er sich mit der "Corona-Berichterstattung der großen Zeitungen und Medienportale", die seiner Meinung nach "in den letzten Wochen wie ein offizieller Verlautbarungskanal der Bundesregierung" gewirkt hätten. Und am Ende der Zusammenstellung kommentiert er: "Die Krankheit, die laut der Experten einiger Medien 'verläuft wie ein Schnupfen', hat 5.316 Todesfälle gefordert und Deutschland hat im Vergleich zu anderen europäischen Staaten noch richtig viel Glück gehabt. Wäre der noch unbekannte 'Super-Spreader' nicht zur Après-Ski-Sause nach Ischgl, sondern zum Karneval nach Köln gefahren, sähen die Zahlen wohl anders aus. Mindestens genauso dramatisch sind die sozialen und ökonomischen Folgen, deren Ausmaß sich noch gar nicht umreißen lässt. All dies hätte unter Umständen verhindert werden können, wenn man früh auf die Ereignisse in China reagiert und von Staaten wie Südkorea, Taiwan oder Singapur gelernt hätte. Aber warum sollte man schon wegen eines 'Schnupfens' die Welt auf den Kopf stellen? Die Versäumnisse des Frühjahrs müssen dringend aufgearbeitet werden. Es war nicht nur die Politik, die auf breiter Ebene versagt hat. Auch die Medien glänzten in diesen Wochen durch eine kritiklose Hofberichterstattung, die stets die Linie der Bundesregierung verteidigt und die Position der Regierung durch Experten-Zitate untermauert hat." [6] Hinweis: Taiwan hat bereits Mitte Januar einen Einreisestopp für Menschen aus Wuhan verfügt, ab Anfang Februar galt dieser für alle Chinesen. Singapur und Südkorea handelten ähnlich und nahezu zur selben Zeit.

Dass Jens Berger höchstpersönlich am 3. Februar das Coronavirus anhand von Zahlen aus China als so gefährlich wie eine Grippe hinstellte und die damaligen "harschen internationalen Reaktionen" als unangemessen bezeichnete, wird von ihm offenkundig erfolgreich verdrängt. Sein aktueller Kommentar trieft geradezu vor Selbstgerechtigkeit. Ganz so, als habe er es von Anfang an gewusst und auch entsprechend gesagt (Kassandra fand ja bekanntlich aufgrund eines Fluches ebenfalls nie Gehör). Dabei verharmloste Berger die Sache auf den angeblich kritischen NachDenkSeiten anfangs noch selbst und lag erkennbar auf der gleichen Linie wie die vermeintlich "kritiklose Hofberichterstattung" der Medien. Jedenfalls ist zu Beginn der Pandemie kein Unterschied zwischen der Argumentation von Jens Spahn und der von Jens Berger erkennbar. Was er den großen Zeitungen und Medienportalen vorwirft, fällt somit auf ihn zurück. Wer mit dem Finger auf andere zeigt… Was hätte sich geändert, hätte man am 3. Februar auf Jens Berger gehört? Nichts! Der Flugverkehr mit China wäre vermutlich noch einige Zeit uneingeschränkt weitergegangen. Eine Entschuldigung, das Eingeständnis eines Irrtums? Fehlanzeige! Stattdessen klagt Jens Berger andere an. Diese Haltung ist sogar naheliegend, wenn man Mitarbeiter einer Website ist, die gerne Medienschelte betreibt. Doch der Mangel an Selbstkritik ist eklatant. Und das Übermaß an Selbstgerechtigkeit genauso.

Postskriptum: Der Autor dieser Zeilen ärgert sich über seine eigenen Fehler und Irrtümer wohl selbst am meisten. Es ist bei ihm wie bei allen anderen: Manchmal hat er recht und manchmal hat er bedauerlicherweise unrecht.

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[1] tagesschau.de vom 06.04.2020
[2] siehe Trotz Übung schlecht vorbereitet vom 03.04.2020
[3] tagesschau.de vom 02.02.2020
[4] Johns Hopkins University, Coronavirus Map, Stand: 24.04.2020, 16:10 Uhr
[5] NachDenkSeiten vom 03.02.2020, Hinweise des Tages
[6] NachDenkSeiten vom 23.04.2020, "Bloß keine Panik!" - die Medien und ihre frühe Corona-Berichterstattung, Hervorhebung durch den Autor