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12. Mai 2020, von Michael Schöfer
Die Diskussion gleitet in gefährliches Fahrwasser ab


Es ist wohl an der Zeit, ein paar Dinge klarzustellen, weil andernfalls die Demokratie peu à peu über die Wupper zu gehen droht. In der Presse werden nämlich gerade die Verschwörungstheoretiker hochgejazzt, und die Empörung über sie wiederum in den sozialen Medien zum Anlass genommen, "Falschinformationen" zu kennzeichnen oder zu entfernen. [1] Ich halte das für höchst bedenklich, ja geradezu für gefährlich. Nicht aus Sympathie für die Verschwörungstheoretiker, wie ich Ihnen gleich eingangs versichern darf.

In der Demokratie darf jeder seine Meinung verbreiten, und nirgendwo steht geschrieben, dass diese Meinung vernünftig oder wahr sein muss. Selbst unvernünftige oder falsche Meinungen stehen unter dem Schutz der Meinungsfreiheit. Sagt zumindest das Bundesverfassungsgericht: "Auch scharfe und überzogene Kritik entzieht eine Äußerung nicht dem Schutz des Grundrechts. Werturteile sind vielmehr durchweg von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt, ohne daß es darauf ankäme, ob die Äußerung 'wertvoll' oder 'wertlos', 'richtig' oder 'falsch', emotional oder rational ist." [2] Das Gleiche gilt für Demonstrationen. Selbstverständlich darf man, solange es friedlich und in Zeiten der Pandemie mit dem gebotenen Sicherheitsabstand geschieht, auch für abstruse Ziele auf die Straße gehen.

Außerdem muss man in einer Demokratie generell davon ausgehen, dass sich am Ende die Vernunft durchsetzt. Alles andere würde ja buchstäblich eine Bevormundung der Bürger etablieren, und zwar durch eine Instanz, die in ihrer allumfassenden Weisheit und par ordre du mufti darüber entscheidet, was vernünftig und damit zulässig oder unvernünftig und damit unzulässig ist. Anders ausgedrückt: Es wäre eine Rechtfertigung für Zensur und Autokratie. Kurzum, wir würden die Freiheit im Namen der Freiheit beseitigen.

Wenn Bürger allen Ernstes glauben, die Erde sei eine Scheibe, Corona würde durch das neue 5G-Handynetz übertragen, Bill Gates wolle den Menschen einen Mikrochip injizieren, um die totale Kontrolle über sie zu erhalten, oder es seien Bestrebungen im Gang, eine sich jeder Kontrolle entziehende Weltregierung zu bilden - so what? Selbst der angeblich drohende sexuelle Missbrauch durch Aliens lässt mich kalt. Ebenso die Steuerung meiner Gedanken durch übernatürliche Wesen. Es ist nicht strafbar, Bullshit zu verbreiten respektive an Humbug zu glauben. Und mal ehrlich: Wie viele glauben wirklich daran? Schädlich wäre das Ganze nur, wenn eine Mehrheit davon überzeugt und deren Auffassung ausschlaggebend wäre. Gerade das sehe ich trotz tausender Demonstranten nicht. Es ist, wenn man genau hinsieht, dennoch bloß eine kleine Minderheit. Wir sollten uns hüten, solche Phänomene zu dramatisieren.

Darüber hinaus braucht man sich manchmal bloß ein bisschen zu erinnern: Die Aussage "Das Coronavirus ist harmlos, alles nur Hysterie" wird neuerdings als Bestandteil einer Verschwörungstheorie gebrandmarkt. Doch wie gefährlich Sars-CoV-2 wirklich ist, kann derzeit kein Wissenschaftler seriös beantworten, sie wissen es noch nicht. Wie dem auch sei, jedenfalls hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 23. Januar 2020 höchstpersönlich das Infektionsgeschehen bei der neuen Lungenkrankheit im Vergleich zur Grippe als milder bezeichnet. [3] Jens Spahn ein Verschwörungstheoretiker? Vermutlich bekäme er heute für diese Aussage in den sozialen Medien den Stempel "Falschinformation" aufgedrückt. Oder würde man seine Äußerung gleich ganz löschen?

Es ist obendrein abenteuerlich, privaten Unternehmen (Facebook, Google, Twitter etc.) das Urteil darüber zu überlassen, was wahr oder gelogen, was richtig oder falsch ist. In einer Demokratie entscheiden darüber nämlich einzig und allein die Gerichte aufgrund von demokratisch zustandegekommenen Gesetzen. Und die gewähren - siehe oben - der Meinungsfreiheit aus gutem Grund großen Freiraum. Private Unternehmen haben weder die Kompetenz noch das Recht, solche Wertungen vorzunehmen und dadurch missliebige Meinungen zu unterdrücken. Wohlgemerkt, wir reden hier über Meinungen, nicht über Straftaten wie Volksverhetzung, Mordaufrufe oder Beleidigungen. Den Algorithmus zu ändern, der Filterblasen erzeugt, wäre wesentlich hilfreicher, tangiert aber das Geschäftsmodell der Internetkonzerne.

Wohin derartige Eingriffe führen könnten, zeigen zwei anschauliche Beispiele: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat ein gewisser Albert Einstein die damals als bizarr geltende Theorie verbreitet, dass Raum und Zeit eine Einheit und zudem variabel seien (das Raum-Zeit-Kontinuum). Diese "Falschinformation" hat sich erstaunlich lange gehalten - vor allem, weil sie sich, übrigens erst nach etlichen Jahren, als wahr herausgestellt hat. Etwa zur gleichen Zeit hat ein gewisser Max Planck die Quantentheorie entwickelt, wonach Licht die Eigenschaft einer Welle und zugleich die eines Teilchens habe (der Welle-Teilchen-Dualismus). Unter bestimmten Umständen könne ein einzelnes Photon sogar zeitgleich durch zwei nebeneinanderliegende Löcher gehen. An dieser unserem Alltagsverstand diametral widersprechenden Fähigkeit haben wir heute noch zu knabbern, gleichwohl hat sich die experimentell überprüfbare Quantentheorie ebenfalls als wahr herausgestellt. (Dass sich die Theorien Einsteins und Plancks gegenseitig ausschließen, steht auf einem anderen Blatt und harrt noch der Aufklärung.)

Nehmen wir einmal an, wir hätten seinerzeit Firmen wie Facebook, Google oder Twitter das Urteil über diese beiden bahnbrechenden Theorien überlassen. Wie wäre es wohl ausgefallen? Nun, wahrscheinlich hätte irgendein anonymer Mitarbeiter sie als "sehr unwahrscheinlich und damit aller Voraussicht nach falsch" etikettiert. Einstein und Planck hätten vielleicht nie den Nobelpreis bekommen. Denkt man dieses Fake-News-Bewertungsprinzip zu Ende, müssten wir daher auch Galilei oder Kopernikus als Verbreiter von abwegigen Theorien schassen. Für viele ihrer Zeitgenossen waren sie abwegig. Was kurioserweise dazu führt, dass die Erde noch immer als Scheibe und als Mittelpunkt des Universums gelten müsste, denn dieses Weltbild bekäme den Stempel der unbestreitbaren Wahrheit aufgedrückt. Von Facebook, Google oder Twitter. In einem intransparenten Verfahren und nach nicht nachvollziehbaren Kriterien. Merke: Alles, was anfangs neu ist, erscheint auch oft als absurd. Aber eben nur scheinbar, denn gelegentlich ist wider Erwarten etwas dran.

Was allerdings nicht heißen soll, dass die aktuellen Verschwörungstheoretiker tatsächlich recht hätten und verkannte Genies wären. Mitnichten, mir geht es vielmehr ums Prinzip: Wie bilden sich Meinungen? Wie einigt sich eine Gesellschaft auf das, was wahrscheinlich vernünftig ist? Und wer darf darüber entscheiden? Wenn ich mir den Verlauf der Menschheitsgeschichte ansehe, hat sich die wie auch immer geartete Unterdrückung von Meinungen noch nie als segensreich erwiesen. Im Gegenteil, der Zwang, nur die offiziell anerkannte Wahrheit vertreten zu müssen und verbreiten zu dürfen, hat sich bei der zivilisatorischen Entwicklung stets als Hemmschuh entpuppt. Das war ehedem das Ansinnen der Heiligen Inquisition. Und dahin wollen wir doch hoffentlich nicht zurück. Letztlich sind nur beweisbare Fakten relevant, bislang hat ihnen die Gesellschaft gegenüber bloßen Behauptungen immer den Vorzug gegeben. Das wird so bleiben.

Lasst die Verschwörungstheoretiker, solange sie keine Gesetze brechen, beispielsweise zu Gewalt aufrufen, doch einfach reden. Wir müssen und können nur auf die Kraft der Gegenargumente bauen. Wenn die Mehrheit leichtgläubig und vollkommen unvernünftig ist, dürfte die Demokratie ohnehin nicht zu retten sein. Entweder sie entwickelt sich zur Autokratie, in der eine von oben verordnete Wahrheit dominiert, oder die Gesellschaft gleitet ab ins Irrationale. Beides keine attraktiven Alternativen.

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[1] tagesschau.de vom 12.05.2020
[2] Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 25.08.1994, 1 BvR 1423/92, dokumentiert bei aufrecht.de
[3] tagesschau.de vom 06.04.2020