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24. Mai 2020, von Michael Schöfer
Eine Strategie der Verharmlosung?


Es ist nachvollziehbar, dass sich vor allem die Reisebranche wegen der Corona-Pandemie ernsthaft Sorgen um ihr Überleben machen muss, denn der Tourismus ist durch die staatlich verordneten Restriktionen weltweit völlig zum Erliegen gekommen. Nicht ohne Grund drängen außer den Reiseveranstaltern auch die Fluggesellschaften auf eine baldige Lockerung beim Reiseverkehr, die Lufthansa beispielsweise will Mitte Juni wieder Flüge nach Mallorca anbieten. Ob und wann in bestimmten Destinationen wieder Charterflieger (vulgo Touribomber) landen, ist aber vorerst noch ungewiss. Gleichwohl nimmt man bereits eine Strategie der zielgerichteten Verharmlosung wahr.

Den Medien wird oft vorgeworfen, die Gefahr durch SARS-CoV-2 zu dramatisieren. Nach wie vor ist ungeklärt, wie tödlich das Virus tatsächlich ist. Es kommt nämlich in Bezug auf die Mortalitätsrate neben dem Ausmaß der Dunkelziffer auch auf die sozialen Verhältnisse der jeweiligen Länder an. In Staaten mit einem zusammengesparten Gesundheitssektor und einem rudimentären sozialen Netz ist die Situation wesentlich dramatischer als in Staaten, in denen beides noch weitgehend intakt ist. Zumindest scheint SARS-CoV-2 tödlicher zu sein als eine normale Grippewelle, kommt aber trotzdem nicht an die Mortalitätsrate der Spanischen Grippe heran, die von 1918 bis 1920 weltweit geschätzten 27 bis 50 Mio. Menschen das Leben kostete. Eine Strategie der Dramatisierung wäre indes genauso schädlich wie eine Strategie der Verharmlosung. Vor allem für die Medien selbst, denn dabei geht das Vertrauen verloren, auf das der Journalismus angewiesen ist.

In Fake-News-Zeiten sind Faktenchecks, die mit dem Nimbus der unbestreitbaren Wahrheit daherkommen, ein äußerst beliebtes Werkzeug der Meinungsmacher. Doch was wahr und was falsch ist, bleibt leider auch danach häufig ungeklärt. Nehmen wir zum Beispiel die neuerdings diskutierte Ansteckungsgefahr bei Flugzeugpassagieren. Der "Faktencheck" des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) suggeriert Entwarnung: Klimaanlagen in Flugzeugen sind keine Virenschleudern, schreibt das RND. "Nach Angaben des Flugzeugherstellers Airbus sorgt ein komplexes und geschlossenes Belüftungssystem in Passagiermaschinen für eine sehr saubere Luft und ein geringes Infektionsrisiko an Bord. Es sorgt dafür, dass die Luft in der Kabine alle zwei bis drei Minuten erneuert wird und der Qualität in einem Krankenhaus entspricht. 'Die Luft im Flugzeug ist bei der Landung sauberer als nach dem Schließen der Türen beim Start', sagt Airbus-Chef-Ingenieur Jean-Brice Dumont." [1]

Schon allein, dass diese Angaben von Airbus kommen, hätte eigentlich misstrauisch machen müssen. Würden wir einem Chemiekonzern, der ein Pestizid als unbedenklich einstuft, das er selbst herstellt, ohne weiteres zustimmen? Wohl kaum, da würden wir wegen der offensichtlichen Interessenlage rasch an der behaupteten Objektivität zweifeln. Und das zu Recht. Airbus will Flugzeuge verkaufen, das geht aber nur, wenn die Fluggesellschaften auch mit den vom Flugzeugbauer produzierten Maschinen fliegen. Airbus würde daher einen Teufel tun, der Öffentlichkeit die Passagierkabine als Infektionsgefahr zu präsentieren. Im Gegenteil, der Flugzeugbauer hat ein ureigenstes Interesse daran, sie gezielt herunterzuspielen. Es wäre die Aufgabe des Reaktionsnetzwerks gewesen, diese Angaben nicht ungeprüft zu übernehmen, sondern kritisch auf ihre Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Die von vielen befürchtete Ansteckungsgefahr ausdrücklich als "falsch" zu bezeichnen, wie es das RND in seinem "Faktencheck" tut, ist nämlich unangebracht. Eine kurze Internet-Recherche bringt es an den Tag.

"Jeder, der in ein Flugzeug steigt, [muss] damit rechnen, sich möglicherweise mit einem Krankheitserreger anzustecken", schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung in seligen Vor-Corona-Zeiten. "Die Wahrscheinlichkeit, sich auf einem Mittelstreckenflug in einer Boeing 757 oder 737 mit Grippeviren anzustecken, liegt alles in allem bei unter drei Prozent. Das gilt allerdings nicht für die Reisenden, die in der unmittelbaren Umgebung des infizierten Passagiers sitzen. Deren Ansteckungsrisiko liegt bei 80 Prozent und höher. Statistisch gesehen, ergibt sich daraus ein neuer Ansteckungsfall für jeden mit Grippeviren infizierten Passagier an Bord eines Flugzeugs der genannten Größe." [2] Das Blatt berief sich dabei auf eine Untersuchung der Universität von Atlanta/USA. [3] Zwar warnen die US-Forscher davor, ihre Ergebnisse zu verallgemeinern, sie bieten dennoch Anlass zur Vorsicht. Unterstellen wir, ein Infizierter steckt beim Hinflug wirklich nur einen weiteren Passagier an - selbst wenn am Urlaubsort nichts dergleichen passiert, sitzen nach dem Rückflug bei der Landung womöglich bereits vier Infizierte in der Maschine.

Grippe ist nicht gleich SARS-CoV-2, doch es gibt auch eine Untersuchung mit Coronaviren. Die Ansteckungsgefahr bei Infektionskrankheiten sei in Flugzeugen beträchtlich, berichtete jüngst die WirtschaftsWoche. "Vor allem, wenn ein kranker Passagier niest, hustet oder sich übergibt. Laut WHO ist die Gefahr, sich anzustecken, vor allem bei denjenigen groß, die in derselben Reihe sowie in den zwei Reihen vor und zwei Reihen hinter dem Infizierten sitzen." Das hat eine Studie aus dem Jahr 2003 ergeben, die Epidemiologen aus den USA und Asien nach dem Ausbruch der ersten Coronavirus-Erkrankung SARS anfertigten. "Ein 72-jähriger mit SARS infizierter Mann auf Platz 14E [einer Boeing 737] hatte seit einigen Tagen Fieber und starb später an der Lungenkrankheit. Der sogenannte Indexpatient - also derjenige, auf den weitere Infektionen zurückzuführen sind - steckte auf dem Flug wahrscheinlich 22 der 120 Menschen im Flieger an, einschließlich zweier Flugbegleiter. Mehr als die Hälfte der so Infizierten saß aber nicht im von der WHO definierten unmittelbaren Gefahrenbereich." [4] Die Schlussfolgerung der Studie lautet: "Die Übertragung von SARS kann in einem Flugzeug erfolgen, wenn infizierte Personen während der symptomatischen Krankheitsphase fliegen." [5] Es steht nicht fest, ob die Übertragung erst in der Kabine oder schon vorher in der Warteschlange im Flughafen erfolgte. Immerhin fand offenbar bei zwei von insgesamt drei untersuchten Flügen keine Infizierung anderer Passagiere statt. Dennoch sind Ergebnisse der Studie aus dem Jahr 2003 wesentlich dramatischer als die der Studie aus dem Jahr 2018.

Die Ergebnisse sind uneinheitlich. Man kann das Infektionsrisiko in Flugzeugen offenbar nicht genau einschätzen, denn es gibt diesbezüglich noch keine gesicherten Erkenntnisse. Es kommt dabei, neben der Filterleistung der Klimaanlage respektive der Umwälzung der Kabinenluft, u.a. auch auf die Auslastung des Fluges an. Ist die Auslastung gering, woran die Fluggesellschaften aus Gründen der Wirtschaftlichkeit verständlicherweise kein Interesse haben, ist die Infektionsgefahr anders einzustufen als bei einem vollbesetzten Flugzeug. Das Infektionsrisiko jedoch kleinzureden, wie es das RND in seinem offenkundig unvollständigen "Faktencheck" tut, ist angesichts der o.g. Studien unzutreffend. Resümee: Wer Fakten wirklich checken will, sollte das gründlich und zuverlässig tun. Alles andere wird dem hochtrabenden Ziel nicht gerecht.

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[1] Redaktionsnetzwerk Deutschland vom 20.05.2020
[2] FAZ.Net vom 29.03.2018
[3] PNAS vom 03.04.2018, PDF-Datei mit 877 KB
[4] WirtschaftsWoche vom 20.02.2020
[5] NEJM vom 18.12.2003, PDF-Datei mit 99 KB