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30. Mai 2020, von Michael Schöfer
Profifußball ist bloß "nice to have"


Bislang ist Deutschland, das muss man neidlos anerkennen, vergleichsweise gut mit der Corona-Pandemie fertiggeworden. Natürlich wurden Fehler gemacht, aber es wurde auch vieles richtig gemacht. Ob wir die wirtschaftlichen Folgen des Shut- und Lockdowns genauso gut bewältigen werden, bleibt dennoch abzuwarten. Da braut sich das Gewitter erst zusammen. Das ist allerdings bloß ein Zwischenstand und kein Endergebnis, die Pandemie ist nämlich noch lange nicht vorbei. Bei der Lockerung, die möglich und obendrein geboten ist, sollte man daher nicht leichtsinnig vorgehen.

In einer Baptistengemeinde in Frankfurt hat man am 10. Mai wohl allzu viel Gottvertrauen gehabt, die 180 Teilnehmer trugen keine Atemmasken und haben beim Gottesdienst gesungen. Ergebnis: Nun gibt es, Stand 28. Mai, bei den Gottesdienstbesuchern und in deren Umfeld bereits 200 Corona-Infizierte. [1] Einen vergleichbaren Vorgang gab es bei einer Pfingstgemeinde in Bremerhaven, dort kamen bei Gottesdiensten bis zu 150 Teilnehmer zusammen. Die Anzahl der daraus resultierenden Infektionen liegt derzeit, Stand gestern, bei 49. [2] Das zeigt, auch wenn hierzulande die Zahl der erkannten Neuinfektionen peu à peu sinkt (laut Robert-Koch-Institut +741 am 29.05. gegenüber +1.304 am 29.04.), dass das Virus weiterhin unter uns ist. Der Sumpf ist noch nicht komplett trockengelegt. Stichwort Dunkelziffer.

Geschäfte, Gaststätten und Hotels dürfen neuerdings unter Auflagen wieder öffnen. Kitas und Schulen werden folgen. Das ist richtig und notwendig. Doch es gibt Branchen, in denen eine Lockerung viel zu gefährlich wäre, dazu gehört u.a. der Profifußball. Momentan finden in der Bundesliga sogenannte Geisterspiele statt, was weder für die Spieler noch für die Fernsehzuschauer reizvoll ist. Es fehlt eben die Atmosphäre im Stadion - das, was Fußballer als zwölften Mann bezeichnen: die Heimkulisse als lautstarke Unterstützung für die Heimmannschaft. Das ist zwar emotional verständlich, aber trotz allem kein Grund, deswegen leichtsinnig zu werden. Der Profifußball zählt nicht zu den systemrelevanten Branchen, er fällt lediglich unter die Rubrik "nice to have". Anders formuliert, auch wenn mich Hardcore-Fans dafür sicherlich gerne steinigen würden, er ist verzichtbar.

Sebastian Hartmann, Bundestagsabgeordneter, Landesvorsitzender der SPD Nordrhein-Westfalens und Mitglied bei Schalke 04, sagte der ARD: "Nach den ersten Erfahrungen der Spieltage ohne Zuschauer in der Ersten und Zweiten Bundesliga brauchen wir eine offene Debatte und schonungslose Analyse. Egal ob Profi- oder lokaler Vereinssport - ohne Zuschauer sind Fußball und andere Mannschaftssportarten nicht dasselbe." [3] Er fordert, die Stadien spätestens zur neuen Saison reguliert für die Fans zu öffnen.

Das will auch der saarländische FDP-Landesvorsitzende Oliver Luksic: "Nichts spricht bei Spielen unter freiem Himmel im Sommer gegen einige wenige hundert Fans mit großem Abstand zwischen den Sitzplätzen." Luksic, ebenfalls MdB und zudem Mitglied des 1.FC Saarbrücken, fiebert dem DFB-Pokal-Halbfinale zwischen Saarbrücken und Leverkusen entgegen. "Eine Geisterkulisse wäre traurig, gerade für die Heimmannschaft und ihre Fans. Strenge Hygiene- und Abstandsregeln könnten aber wenigstens einigen treuen Anhängern ermöglichen - etwa durch eine Verlosung unter den Dauerkartenbesitzern - den denkbaren historischen Einzug des FC Saarbrücken ins DFB-Pokalfinale zu erleben." [4]

Bei allem Verständnis für den Profifußball, aber die Öffnung der Stadien für Zuschauer wäre falsch und äußerst leichtsinnig. Zur schonungslosen Analyse gehört die banale Erkenntnis: Die vielbeschworene Atmosphäre im Stadion wird von den Fans durch Brüllen, Jubeln und Gesänge erzeugt. Gewinnt die Heimmannschaft, sind auch Umarmungen üblich. SARS-CoV-2 feiert dann ungewollt mit. Das dürfte, selbst unter Auflagen und unter Berücksichtigung, dass das Spiel unter freiem Himmel stattfindet, viel gefährlicher als die eingangs erwähnten Gottesdienste sein.

Gesundheitsexperten sind der Ansicht, dass das Champions League-Hinspiel zwischen Atalanta Bergamo und dem FC Valencia am 19. Februar 2020 der Grund für die hohe Zahl an Infizierten in der Lombardei gewesen ist. Beim Spiel und auf dem Hin- und Rückweg zum Stadion hätten sich besonders viele Menschen angesteckt. Das Risiko wäre selbst für "wenige hundert Fans" viel zu groß, zumal sie sich bei brisanten Spielen wie etwa einem DFB-Pokal-Halbfinale bestimmt weniger diszipliniert benehmen als biedere Gottesdienstbesucher. Außerdem dürften dann schnell Forderungen laut werden, wieder eine echte Heimkulisse zuzulassen, weil 300 Fans in einer für 60.000 Zuschauer gebauten Arena natürlich in Wahrheit ebenfalls bloß eine traurige Kulisse abgeben.

Beim Fußball spielen Emotionen eine große Rolle, gleichwohl sollten, auch wenn es schwerfällt, wenigstens die Abgeordneten der Ratio den Vorzug geben. Bei der Bewältigung der ökonomischen Folgen der Pandemie stehen gewiss andere Interessen im Vordergrund, die der Fußballmillionäre befinden sich auf der Rangliste der Wichtigkeit ziemlich weit unten. Ich bin der Auffassung, mit Geisterspielen sind sie alles in allem gut bedient. Und die Fans? Nun, das was den eigentlichen Reiz des Fußballs ausmacht, wird es auf absehbare Zeit ohnehin nicht mehr geben. Wiedervorlage nach Verfügbarkeit eines Impfstoffes. Selbst im eher lockeren Schweden, das gezielt den Weg der Herdenimmunität verfolgt, wird die Saison der ersten Liga vorerst wohl vor leeren Rängen stattfinden.

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[1] Hessischer Rundfunk vom 28.05.2020
[2] Radio Bremen vom 29.05.2020
[3] tagesschau.de vom 30.05.2020
[4] tagesschau.de a.a.O.