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31. Mai 2020, von Michael Schöfer
Israel wird nicht aufhören


Die Pläne Israels zur Annexion großer Teile des Westjordanlandes konkretisieren sich. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will damit, wie er in einem Interview ankündigte, voraussichtlich im Juli 2020 beginnen. Die israelische Regierung plant, im Jordantal einen zehn Kilometer breiten Streifen entlang der jordanischen Grenze zu annektieren. Dort leben etwa 50.000 Palästinenser, denen freilich die israelische Staatsbürgerschaft vorenthalten wird und die dadurch im eigenen Land schlagartig zu Ausländern mit minderen Rechten mutieren (u.a. kein Wahlrecht). Der Charakter Israels soll jüdisch bleiben, die republikanische Definition des Staatsbürgers, die die Gleichheit vor dem Gesetz postuliert, ist "Bibi" fremd. Netanjahu sieht es vielmehr so: "Israel ist nicht der Staat all seiner Bürger. Nach dem von uns verabschiedeten Nationalstaatsgesetz ist Israel der Staat der Juden - und von niemandem sonst." [1] Apartheid à la Israel.

Ob palästinensische Landbesitzer eine Entschädigung für - im Übrigen völkerrechtswidrige - Enteignungen bekommen, sagte Netanjahu nicht. Zudem will er das Gros der Gebiete, auf denen israelische Siedlungen stehen, ebenfalls dem Staat Israel einverleiben. "Als Ausgleich für die annektierten Flächen im Westjordanland sind für die Palästinenser isolierte Gebiete in der Negev-Wüste an der Grenze zu Ägypten vorgesehen", schreibt die Süddeutsche. [2] Wertloses Land, auf dem bislang noch nicht einmal Israelis leben wollten. Ein "guter Deal" also. Hat nicht einst auch die Halbinsel Manhattan für ein paar Glasperlen und anderen Tand den Besitzer gewechselt?

In Siedlungen, die weiterhin als isolierte Enklaven im geschrumpften Palästinensergebiet verbleiben, wird der Siedlungsbau lediglich für vier Jahre eingefroren. Das bedeutet: Israel wird auch nach der Annexion nicht damit aufhören, sich weitere Teile der 1967 im Sechstagekrieg eroberten Gebiete anzueignen. "Eretz Israel" (Großisrael) rückt immer näher. Dabei sagt die IV. Genfer Konvention in Artikel 49 unmissverständlich: "Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet (...) umsiedeln." Und: "Zwangsweise Einzel- oder Massenumsiedlungen (…) aus besetztem Gebiet nach dem Gebiet der Besetzungsmacht (...) sind ohne Rücksicht auf ihren Beweggrund verboten." Enteignungen sind gemäß Artikel 53 ebenfalls illegal. [3]

Das Völkerrecht verbietet Annexionen. Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen untersagt alle Maßnahmen, die "gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates" gerichtet sind. [4] Dies gilt, wie die Vereinten Nationen später präzisierten, ausdrücklich auch in Bezug auf die von Israel 1967 besetzten Gebiete, obgleich bis dato kein Palästinenserstaat existiert. Als Israel 1980 per Gesetz Ostjerusalem annektierte, hat der UN-Sicherheitsrat einstimmig die Resolution 478 angenommen (wobei sich die USA damals enthielten). Die Resolution erklärte das Jerusalemgesetz für "null und nichtig". Das Gremium stellte kategorisch fest: Die gewaltsame Aneignung von Gebieten ist unzulässig, die Annexion Ostjerusalems durch Israel folglich eine Verletzung des Völkerrechts. Mit Verweis auf die Resolution 476 wurde erneut bekräftigt, "daß zunächst und vor allem die anhaltende Besetzung der seit 1967 von Israel besetzten arabischen Gebiete, einschließlich Jerusalems, beendet werden muß". [5] Israel ignorierte alles.

Was hat sich seitdem geändert? Der Mann im Weißen Haus hört jetzt auf den Namen Donald Trump. Und der ist für jeden schmutzigen Deal zu haben. Der US-Präsident segnet alle Pläne Netanjahus ab und erklärt sie eigenmächtig für rechtmäßig. Ganz so, als habe allein Trump über die Auslegung des Völkerrechts zu entscheiden, nicht die dafür zuständigen Vereinten Nationen und die internationalen Gerichtshöfe.

Die Europäische Union wiederum, die die Annexion der Krim durch Wladimir Putin verurteilte und deshalb sogar Sanktionen in Kraft setzte, ist angesichts der Absichten Israels immerhin ein bisschen besorgt. Benjamin Netanjahu schlottern bestimmt vor Angst die Knie. (Achtung: Ironie!) Der Kleinmut der Europäer ist weithin bekannt. Dazu gesellt sich die übliche Scheinheiligkeit: Israelische Produkte boykottieren? Wird gerne als antisemitisch verunglimpft. Wir messen mit unterschiedlichen Maßstäben - und das ist falsch!

Wenn die Europäer wirklich zu einem auf Regeln basierenden System der internationalen Beziehungen zurückkehren wollen, müssen sie auch entsprechend glaubwürdig handeln. "Das Völkerrecht ist ein Grundpfeiler der auf internationalen Regeln basierenden Ordnung", beteuert zum Beispiel der EU-Außenbeauftragte Josep Borell. [6] Folgen hat das allerdings keine. Oder nur, wenn Russland gegen die Regeln verstößt. Bei China und Israel stehen andere, scheinbar gewichtigere Interessen im Vordergrund. Ist es da verwunderlich, wenn sich mehr und mehr das Recht des Stärkeren durchsetzt?

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[1] FAZ.Net vom 11.03.2019
[2] Süddeutsche vom 29.05.2020
[3] Der Bundesrat, das Portal der Schweizer Regierung, Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten
[4] Vereinte Nationen, Charta
[5] Vereinte Nationen, Resolutionen und Beschlüsse des Sicherheitsrats 1980, PDF-Datei mit 2,2 MB
[6] haGalil.com vom 22.05.2020