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06. Juni 2020, von Michael Schöfer
Ein Funktionär lästert über Funktionäre


Dass Koalitionen von Parteien ausgehandelt und Koalitionsverträge von deren Repräsentanten unterzeichnet werden, hat sich offenbar noch nicht überall herumgesprochen. Obendrein werden Gespräche von Regierungsparteien, was man künftig zu tun gedenke, gerne als unzulässige Mauscheleien verunglimpft und sollen dadurch den Geruch der Unlauterkeit verströmen. So lästert etwa ausgerechnet der umstrittene Gewerkschaftsfunktionär Rainer Wendt (Deutsche Polizeigewerkschaft) über Parteifunktionäre: "Im Kanzleramt sitzen Parteifunktionäre und beraten Schicksalsfragen unseres Landes. Was macht eigentlich unsere Volksvertretung? Ach ja, sie wartet ab und stimmt dann zu. Das hatte sich unsere Verfassung definitiv anders vorgestellt", schreibt er empört auf seiner Facebook-Seite. [1] Wendt meint damit das Treffen des Koalitionsausschusses der Großen Koalition (CDU/CSU, SPD). Das ist Realsatire as its best, aber eine unbeabsichtigte, wie man unterstellen darf. Einmal mehr einer seiner berühmt-berüchtigten, vom Mangel an Selbstreflexion geprägten Schnellschüsse. Ob er wenigstens im Nachhinein den satirischen Gehalt seiner Worte erkannt hat? Es wäre ihm zu wünschen.

Ob sich unsere Verfassung das definitiv anders vorgestellt hat, ist überdies äußerst fraglich. Bereits nach der ersten Bundestagswahl im Jahr 1949 gab es zwischen CDU/CSU, FDP und der Deutschen Partei (DP) Koalitionsverhandlungen und ein daraus resultierendes Koalitionsabkommen. Wohlgemerkt, ein von den Parteien (!) ausgehandeltes. Die Bundestagswahl fand am 14. August 1949 statt, der erste Deutsche Bundestag konstituierte sich jedoch erst am 7. September. Die Parteifunktionäre haben in der Zwischenzeit nicht bloß Däumchen gedreht: Der Konrad-Adenauer-Stiftung zufolge "überzeugt[e] Adenauer [am 21. August] als Gastgeber in seinem Haus in Rhöndorf bei Kaffee, Kuchen und Wein über zwanzig führende Vertreter der Union von seinen Vorstellungen einer bürgerlichen Koalition mit der FDP unter Ausschluss der SPD - und unter seiner Führung. Nach langer Diskussion in der Runde und in Einzelgesprächen werden in einem Pressekommuniqué die Ergebnisse des Tages verkündet." [2] Das ist, wie von der Verfassung (Artikel 21 GG) vorgesehen, politische Willensbildung und damit vollkommen in Ordnung, selbst wenn die Wählerinnen und Wähler nicht bei Kaffee, Kuchen und Wein in Rhöndorf eingeladen waren. Immerhin keine grobe Verfälschung des Wählerwillens.

1949 waren obendrein an den Koalitionsverhandlungen viele Verfassungsväter beteiligt. Es ist von daher unwahrscheinlich, dass dies in ihren Augen etwas Verwerfliches oder gar Verfassungswidriges gewesen ist. Vielmehr ist richtig: Absprachen gibt es in der Politik schon seit eh und je. Etwas anderes anzunehmen und als erstrebenswertes Ideal darzustellen, ist unglaublich naiv. Wie anders als durch Absprachen sollen sich denn Vertreter von unterschiedlichen Interessen auf etwas Gemeinsames (z.B. die Bildung einer Regierung und deren Absichten) verständigen? Vermutlich wird es auch in der Deutschen Polizeigewerkschaft Absprachen zwischen Funktionären geben, die das Ergebnis eines Gewerkschaftstages faktisch vorwegnehmen. Was aber noch schlimmer ist: Rainer Wendt predigt Wasser, würde aber selbst lieber Wein trinken. Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft prangert nämlich etwas an, bei dem er gerne dabei gewesen wäre, nur haben sie ihn nicht dabeihaben wollen.

Wir erinnern uns: Ende 2019 wäre Rainer Wendt beinahe Staatssekretär in Sachsen-Anhalt geworden, jedenfalls war das das Ergebnis von (Achtung!) Absprachen mit dem dortigen CDU-Landeschef Holger Stahlknecht. Nur war Wendt zu seinem Leidwesen in seiner eigenen Partei nicht vermittelbar. Anschließend reagierte er verschnupft: "In den nächsten fünf Jahren bitte überhaupt keine Jobangebote mehr. Und was dann kommt, wird eine Woche lang auf Seriosität überprüft. Und was aus der CDU kommt, mindestens drei Wochen lang." [3] Wäre es anders gekommen, wäre der Polizeigewerkschafter heute Mitglied einer Regierung, ohne sich jemals einer Wahl gestellt zu haben, also bloß aufgrund einer (Achtung!) Absprache zwischen Parteifunktionären. Wendt hätte ohne Landtagsmandat am Handeln der Landesregierung mitgewirkt.

Im Gegensatz dazu haben fast alle Mitglieder des eingangs erwähnten Koalitionsausschusses nicht nur ein Parteiamt, sondern sind auch durch die Wahl innerhalb der Bundestagsfraktionen sowie durch ein Votum des Wahlvolks legitimiert. Dem Koalitionsausschuss gehören die Parteispitzen der Regierungsparteien (Annegret Kramp-Karrenbauer, Norbert Walter-Borjans, Saskia Esken, Markus Söder), die Spitzen der Bundestagsfraktionen (Ralph Brinkhaus, Rolf Mützenich) und die Bundeskanzlerin (Angela Merkel) an. Bis auf die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer und den Co-SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans sind alle gewählte Volksvertreter, haben somit auch ein Mandat des Wählers. Etwas zu skandalisieren, wo es nichts zu skandalisieren gibt, ist das Rezept von Populisten. Aber wer sich auf Rainer Wendts Facebook-Seite einmal genauer umsieht, merkt ohnehin recht schnell, wes Geistes Kind er ist.

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[2] Konrad-Adenauer-Stiftung, Der Deutsche Bundestag wählt Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler