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11. Juni 2020, von Michael Schöfer
Minneapolis wir haben ein Problem! Bloß Minneapolis?


Wir schreiben den 13. April 1970: "Houston, wir haben ein Problem." Das waren die legendären Worte von Jack Swigert, dem Kommandokapselpiloten von Apollo 13. Kommandant Jim Lovell wiederholte auf Nachfrage des Kontrollzentrums: "Houston, wir haben ein Problem!" Vier nervenaufreibende Tage danach war das Problem allerdings schon gelöst, die Crew landete am 17. April sicher im Pazifik. So schnell dürfte das Problem, das mit dem ebenfalls bereits legendären Satz "I can't breathe" gut beschrieben ist, nicht zu lösen sein. Minneapolis wir haben ein Problem! Wie bitte, bloß Minneapolis? Nein, ganz Amerika hat ein Problem. Ein gewaltiges sogar. Und es besteht nicht nur in unangemessener Polizeigewalt, sondern geht viel, viel tiefer.

"Jedes Jahr sterben rund 1.000 Amerikaner bei Polizeieinsätzen", schreibt die Süddeutsche. Aber seit dem Jahr 2000 sind auch mehr als 2.500 Beamte im Dienst gestorben. [1] Das ist die bittere Konsequenz einer schwerbewaffneten Gesellschaft, in der Schusswaffen praktisch für jedermann zugänglich sind. In 43 Prozent der US-Haushalte gibt es eine Schusswaffe (Stand 2018) - vom Revolver bis zum halbautomatischen Sturmgewehr. [2] Das Ausmaß des Waffenbesitzes ist erschreckend: geschätzte 393 Mio. Waffen verteilen sich auf 50 Mio. Haushalte. Die Waffenlobby (National Rifle Association) hat großen politischen Einfluss. Der 2. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, der den privaten Waffenbesitz nach vorherrschender juristischer Auslegung zu einem Grundrecht der US-Bürger macht, wird von der NRA verbissen verteidigt. Waffenbesitz ist in den USA eines der umstrittensten Themen, eine grundlegende Änderung liegt - wenn überhaupt - in weiter Ferne.

Umfragen zufolge besitzen Weiße (36 %) häufiger Waffen als Schwarze (24 %). [3] Bei den durch Polizeigewalt Getöteten ist es jedoch umgekehrt: Bei Schwarzen kommen auf eine Million Einwohner 30 Getötete, bei Weißen hingegen bloß 12. [4] Im Verhältnis sterben in den USA bei Polizeieinsätzen somit fast dreimal mehr Schwarze als Weiße. Die Ursachen sind aber nicht nur bei der Polizei selbst zu suchen (Rassismus, mangelhafte Ausbildung), sondern mindestens genauso in der sozialen Spaltung der Bevölkerung.

Die Vereinigten Staaten stehen vor einem vielschichtigen Problem, das nur schwer zu lösen ist. Und die einfachen Lösungen sind dazu am ungeeignetsten. "Defund the police" ist so eine: streicht der Polizei die Mittel. Polizeireformen sind zweifelsohne dringend notwendig, aber sie kosten auch Geld, beispielsweise eine längere und intensivere Ausbildung. Während etwa in Baden-Württemberg ein Polizist 30 Monate (mittlerer Polizeivollzugsdienst) bzw. 45 Monate (gehobener Polizeivollzugsdienst) ausgebildet wird, sind es in den USA im Schnitt lediglich 19 Wochen. Die längste Ausbildungszeit schreibt Kalifornien vor, dort sind es ganze 32 Wochen. [5] Im Vergleich zu Deutschland genießen amerikanische Polizeibeamte nur eine Schmalspurausbildung, werden aber trotzdem hochgerüstet auf die Bevölkerung losgelassen. Entsprechend sehen die Ergebnisse aus. Jetzt allerdings die Haushaltsmittel für die Polizei zusammenzustreichen, wäre kontraproduktiv. Das Gegenteil von dem, was notwendig ist. Unter Umständen erntet man nämlich durch "Defund the police" mehr anstatt weniger Gewalt (die Kriminalität wird ja nicht von sich aus zurückgehen). Daher sollte man vorrangig in bessere Polizeiqualität investieren, langfristig zahlt sich das bestimmt für alle Beteiligten aus.

Doch unabhängig davon, das Hauptproblem in den USA ist mit Sicherheit die "strukturelle Gewalt" (Johan Galtung). Darunter "fallen alle Formen der Diskriminierung, die ungleiche Verteilung von Einkommen, Bildungschancen und Lebenserwartungen, sowie das Wohlstandsgefälle". [6] Strukturelle Gewalt ist im Gegensatz zur direkten Gewalt weniger sichtbar. Zum besseren Verständnis: "Wenn ein Ehemann seine Ehefrau schlägt, dann ist das ein klarer Fall von personaler Gewalt; wenn aber eine Million Ehemänner eine Million Ehefrauen in Unwissenheit halten, dann ist das strukturelle Gewalt. Ebenso ist in einer Gesellschaft, in der die Lebenserwartung der Oberschicht doppelt so hoch ist wie die der Unterschicht, Gewalt manifest, auch wenn keine konkreten Akteure sichtbar sind, die direkt gegen andere vorgehen, wie etwa im Fall der Tötung eines Menschen durch einen anderen." [7] Anders ausgedrückt: Der Tod von George Floyd ist bloß ein Symptom, die wahre Ursache ist die soziale Ungerechtigkeit in den USA.

Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß für soziale Ungerechtigkeit, er drückt die innergesellschaftliche Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen aus. Der Wert 0 würde absolut gleichmäßige Verteilung bedeuten, der Wert 1 maximale Ungleichverteilung. Die Ungleichheit in den USA ist deutlich höher als in Deutschland. Nettoeinkommen (Einkommen nach Steuern, Sozialbeiträgen und zuzüglich monetärer Transfers): USA 0,39 | Deutschland 0,29. Nettovermögen (nach Abzug von Schulden): USA 0,86 | Deutschland 0,79. [8] Unter den westlichen Industriestaaten ist die Einkommens- und Vermögensungleichheit in den USA eine der höchsten. Das Einkommen und Vermögen trennt in den USA nicht nur Reich von Arm, sondern auch Weiße und Schwarze. Afroamerikaner verdienen deutlich weniger als Weiße, sie sind zudem häufiger arbeitslos und von Armut betroffen. Die offizielle Armutsquote in den USA beträgt 11,8 Prozent, bei Weißen (ohne Hispanics) sind es 8,1 Prozent, bei Schwarzen jedoch 20,8 Prozent. [9] Formulieren wir es mit den Worten von Bill Clinton: "It's the economy, stupid!" Das heißt: Eine gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalprävention.

Weiße leben länger als Schwarze: Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Weißen (ohne Hispanics) betrug 2017 eher mäßige 78,5 Jahre (Männer 76,1 | Frauen 81,0). [10] Schwarze leben im Schnitt mit 75,3 Jahren noch einmal deutlich kürzer (Männer 71,9 | Frauen 78,5). [11] Afroamerikaner landen im Verhältnis fünfmal häufiger hinter Gittern als Weiße, dafür erreichen sie wesentlich seltener einen hohen Bildungsabschluss. Der Anteil der über 24-Jährigen, die mindestens den Bachelor-Abschluss besitzen, betrug 2016 bei Weißen 35 Prozent, bei Afroamerikanern waren es bloß 21 Prozent. [12] Eine im wahrsten Sinne des Wortes explosive Gemengelage also.

Es geht daher in den USA nicht bloß darum, die Polizei zu reformieren, die ganze Gesellschaft gehört reformiert. Da das Land aber auch in der Ansicht, wie der Sozialstaat ausgestaltet werden soll, tief gespalten ist, dürfte dieses Vorhaben ziemlich schwerfallen. Unter einem Präsidenten wie Donald Trump sogar besonders schwer. Man mag es beklagen, doch es ist nun mal die unbestreitbare Realität: Das, was in Europa längst Standard ist, etwa eine allgemeine Krankenversicherung, ist in den USA für viele sozialistisches Teufelszeug. Die Einstellung der Amerikaner ändert sich leider nur langsam. Oder möglicherweise gar nicht. Gleichwohl wäre es falsch, nicht auf die eigentlichen Ursachen der ausufernden Polizeigewalt hinzuweisen. Leugnen hat nämlich noch nie ein Problem beseitigt, vielmehr im Endeffekt noch verstärkt.

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[1] Süddeutsche vom 10.06.2020, online nicht verfügbar
[2] Statista, Vorhandensein einer Schusswaffe im Haushalt in den USA bis 2018
[3] Pew Resarch Center, The demographics of gun ownership
[4] ZDF vom 03.06.2020
[5] Polizei Baden-Württemberg, FAQ Ausbildung und tagesschau.de vom 08.06.2020
[6] Wikipedia, Strukturelle Gewalt
[7] Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, Hamburg 1975, Seite 13
[8] Institut der Deutschen Wirtschaft, IW-Kurzbericht 29/2018, Die Einkommens- und Vermögensungleichheit Deutschlands im internationalen Vergleich, PDF-Datei mit 154 KB
[9] United States Cencus Bureau, Income and Poverty in the United States: 2018, Excel-Datei mit 37 KB
[10] Deutschland: Ø 81 Jahre, Männer 78,5 und Frauen 83,3
[11] National Center for Health Statistics, United States Life Tables 2017, PDF-Datei mit 1,9 MB
[12] U.S. Department of Education, Status and Trends in the Education of Racial and Ethnic Groups 2018, PDF-Datei mit 6,7 MB