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13. Juni 2020, von Michael Schöfer
Wie oft geschieht das noch? Und wie oft bemerken wir das nicht?


Die Medien leiden seit einiger Zeit unter dem Vorwurf von Rechtspopulisten, nicht wahrheitsgemäß zu berichten. Das böse Wort der "Lügenpresse" machte die Runde. Und man muss kein Anhänger der Rechtspopulisten sein, um das zumindest für Teile der Medien zu bejahen. Ich sage mal: Das Blatt mit den großen Buchstaben. "'Einmal das Lügenblatt bitte': Mit diesen Worten tauchte der Kabarettist Dietrich Kittner [in den späten sechziger Jahren] an mehreren Kiosken in Hannover auf und erhielt umstandslos die Bild-Zeitung ausgehändigt." [1] Aber gottlob gibt es natürlich auch noch die seriöse Presse, der man das keinesfalls zum Vorwurf machen kann. Allerdings irritieren immer wieder Fälle, bei denen man sich fragt: Ist nicht vielleicht doch ein Quäntchen Wahrheit dran?

Dass man auch durch das Unterschlagen von relevanten Teilen Aussagen verfälschen kann, ist eine Binse. Nicht ohne Grund sollen Journalisten bei der Berichterstattung bestimmte Regeln einhalten. Ich zitiere hierzu aus dem Pressekodex, den ethischen Standards für den Journalismus. Unter Ziffer 2 (Sorgfalt) steht dort: "Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. (…) Kürzungen oder Zusätze dürfen nicht dazu führen, dass wesentliche Teile der Veröffentlichung eine andere Tendenz erhalten oder unrichtige Rückschlüsse zulassen…" [2] Bei der Aussage der SPD-Co-Vorsitzenden Saskia Esken haben aber Teile der Presse gegen diese Selbstverpflichtung verstoßen.

Was Esken gesagt hat: "Auch in Deutschland gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte, die durch Maßnahmen der Inneren Führung erkannt und bekämpft werden müssen'. Dabei stehe die große Mehrheit der Polizeibediensteten solchen Tendenzen sehr kritisch gegenüber und leide unter dem potenziellen Vertrauensverlust, der sich daraus ergebe." [3] Wie Sie sehen, besteht ihre Aussage aus zwei Teilen. Teil 1: Es gibt in den Reihen der Sicherheitskräfte einen latenten Rassismus. Teil 2: Die große Mehrheit der Polizeibediensteten lehnt Rassismus ab.

Wenn man nun Teil 1 der Aussage verbreitet, Teil 2 jedoch unterschlägt, wird die Substanz der Aussage verfälscht. Genau das hat die Süddeutsche gemacht. Am 9. Juni lesen wir auf Seite 1 der Printausgabe unter der Überschrift Esken fordert Beschwerdestelle: "Auch in Deutschland gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte, die durch Maßnahmen der Inneren Führung erkannt und bekämpft werden müssen." Teil 2 der Aussage von Saskia Esken fehlt, er wäre aber nicht unwichtig gewesen, denn die darauffolgende Empörung war vorauszusehen. "Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Dietmar Schilff, wies die Vorwürfe zurück. Wenn Polizisten rassistisch oder mit unverhältnismäßiger Gewalt vorgingen, müsse das Konsequenzen haben. 'Der Polizei und ihren Beschäftigten aber eine solche Grundhaltung vorzuhalten, ist abwegig und trägt populistische Züge.'" Sehen Sie, worauf ich hinaus will? Esken sagt sinngemäß (siehe oben beim ZDF): Rassismus ist keine Grundhaltung bei der Polizei. Stand halt bloß nicht in der Süddeutschen. Dafür kommt noch in der gleichen Ausgabe ein Polizeigewerkschafter zu Wort, der ihr genau das unterstellt. Und der Leser? Kann sich aufgrund der gekürzten Aussage der SPD-Vorsitzenden keine eigene Meinung bilden.

Natürlich haben sich auch andere über Eskens Aussage echauffiert, worüber uns die Süddeutsche am 10. Juni auf Seite 6 der Printausgabe unterrichtet: "Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hat die Klage der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken über einen 'latenten Rassismus' bei den Sicherheitskräften zurückgewiesen. 'Die absolute Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten in Deutschland hat mit Rassismus absolut nichts am Hut', sagte Lambrecht der Neuen Osnabrücker Zeitung. (…) Esken hatte in einem Zeitungsinterview einen 'latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte' beklagt." Darüber, dass Esken der Auffassung ist, die große Mehrheit der Polizeibediensteten stehe rassistischen Tendenzen sehr kritisch gegenüber, kein Sterbenswörtchen. Kurios: Lambrechts Kritik an Esken ist vollkommen überflüssig, weil zwischen beiden eine hundertprozentige Übereinstimmung besteht (hier eigens hervorgehoben). Dadurch, dass die Süddeutsche die Aussage von Esken unterschlägt, entsteht aber der Eindruck eines Dissenses. Das widerspricht in meinen Augen der journalistischen Sorgfaltspflicht.

Der 11. Juni war in Bayern ein Feiertag, weshalb die in München beheimatete Süddeutsche erst wieder am 12. Juni auf den Markt kam. An diesem Tag bringt sie auf Seite 5 der Printausgabe einen längeren Artikel über Saskia Esken. Unter der Überschrift Ohne Freund und Helfer lesen wir: Esken ist mit dem niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius in der Nienburger Polizeiakademie eingeladen. "Es gibt dringend etwas zu besprechen: Hat die Polizei ein Rassismusproblem? Esken sieht es so. Sie hatte den gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem Polizeieinsatz in den USA zum Anlass für Kritik genommen. Auch in Deutschland gebe es 'latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte'. Seither ist Pistorius auf der Palme. Und Polizeischüler Mirco H., drittes Ausbildungsjahr, hätte gerne gewusst, was Esken zu ihrer Aussage getrieben hat. Pistorius zeigt wenig Bereitschaft, Esken diesen Besuch einfach zu machen: Die Polizei sei 'absolut vertrauenswürdig', sagt er in Fernsehinterviews vor Eskens Ankunft." Die Süddeutsche versäumt es einmal mehr, Eskens vollständige Aussage wiederzugeben. Man könnte fast Absicht dahinter vermuten. Fährt die SZ gegen Esken eine Kampagne? Wäre es so, wäre es ein eklatanter Fall von Manipulation. Oder ist es bloß schlampige Arbeit?

Halten wir fest: Die Süddeutsche hat in der Printausgabe dreimal über die Sache berichtet - und hat dreimal nur Teil 1 von Eskens Aussage abgedruckt, dabei jedoch Teil 2 konsequent unterschlagen. Im vorliegenden Fall wird zweifelsohne durch das Unterlassen wesentlicher Teile von Eskens Aussage die Berichterstattung beeinflusst und in eine bestimmte Richtung gelenkt: Esken kann's nicht, Esken ist gegen die Polizei, Esken hat eine abwegige Meinung. Natürlich immer hübsch verpackt in die scheinbare Neutralität der Presse: Wir kommen ja lediglich unserer Chronistenpflicht nach. Stimmt, aber bedauerlicherweise nur unvollständig. So wird der Journalismus vom Beobachter und Berichterstatter zum Teilnehmer an der politischen Willensbildung. Das wäre sogar vertretbar, wenn die Presse hierbei die Trennungsregel beachten würde (Trennung von Information und Meinung). Die Süddeutsche hat aber die Information selbst beeinflusst, um hierdurch unterschwellig eine Meinung zu transportieren. Da fragt man sich: Wie oft geschieht das noch? Und wie oft bemerken wir das nicht?

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[1] Die Zeit-Online vom 19.08.2015
[2] Presserat, Pressekodex, Hervorhebung durch den Autor
[3] ZDF vom 08.06.2020