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25. Juni 2020, von Michael Schöfer
Das ist der Geist, der die Misere möglich gemacht hat


Das eigentliche Problem ist doch, dass uns die beklagenswerten Arbeitsverhältnisse in der Fleischindustrie in der Vergangenheit kaum gestört haben. Und diese laxe Haltung war nicht bloß auf die Fleischindustrie beschränkt. Erst jetzt, seitdem via Corona-Infektionen auch große Teile der Bevölkerung betroffen sind, bewegt sich hoffentlich etwas.

Das ist der Geist, der die Misere möglich gemacht hat. Auszug aus dem Landtagswahlprogramm der CDU Nordrhein-Westfalen: "Wir wollen eine umfassende Entbürokratisierung einleiten. Wir entlasten die staatliche Verwaltung und wirken einem zusätzlichen Personalaufbau und neuen finanziellen Belastungen des Landes entgegen. In einem ersten Schritt werden wir unnötige bürokratische Regelungen wie das Tariftreue-und Vergabegesetz abschaffen." [1]

Entbürokratisierung? Will heißen: Bloß keine wirtschaftsfeindlichen Regulierungen. Personalaufbau entgegnen? Will heißen: Das vorhandene Personal reicht nach Ansicht der CDU vollkommen aus. Tariftreue-und Vergabegesetz abschaffen? Will heißen: Ja, wo kommen wir denn da hin, wenn jeder ordentliche Löhne zahlen würde. Alles in allem genau das, was wir nun bei der Fleischindustrie beklagen: Eine bewusst herbeigeführte Kultur, die die Ausbeutung der Arbeitnehmer fördert und den Arbeits- und Gesundheitsschutz vernachlässigt. Kurzum, wir ernten jetzt genau das, was wir jahrzehntelang gesät haben.

Der Bundestagsabgeordnete Tobias Zech (CSU), damals Mitglied in den Ausschüssen für Arbeit und Soziales sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, sagte am 21.10.2016 in einer Debatte: "Wenn ich über Zeitarbeit und Werkverträge nachdenke, dann denke ich an Flexibilität und an Wettbewerbsfähigkeit und nicht per se an Lohndumping und das Ausnehmen von Arbeitnehmern. (…) Werkverträge sind kein Instrument für Lohndumping. Werkverträge sind die Grundlage der deutschen Wirtschaft." Und zur Opposition gewandt: "Sie reden die per se schlecht. Das entspricht nicht dem, was wir uns für Deutschland wünschen. Das hat nichts mit der Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes zu tun. Das schafft keine Arbeitsplätze. Das ist Überregulierung. Was Sie hier fordern, schafft Arbeitslosigkeit. Das werden wir nicht zulassen." [2] Phrasen, nichts als Phrasen. Allerdings würde Zech seine Sätze im Lichte der aktuellen Entwicklung wohl kaum wiederholen, wäre ja auch angesichts der unbestreitbaren Realität mehr als peinlich.

Nun sind sich plötzlich alle einig, nun soll beispielsweise die Kontrolldichte erhöht werden. Ach! Doch das hören wir schon seit vielen Jahren, bei jedem Skandal immer wieder aufs Neue, ohne dass sich bislang etwas grundlegend geändert hätte. Das Versprechen, die Kontrollen massiv zu verstärken, gab es schließlich bereits beim Gammelfleischskandal im Jahr 2005. Erinnern Sie sich noch? Eingehalten wurde es nicht. Und es bleibt abzuwarten, ob es tatsächlich zu einem Verbot von Werkverträgen kommt, dieser ausbeutungsfördernden Kette von Sub-Sub-Sub-Unternehmen. Die Distanzierung von Werkverträgen ist bei manchen wahrscheinlich nur der Taktik geschuldet. Sie wollen warten, bis sich der Sturm wieder gelegt hat - und dann weitermachen wie zuvor.

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[1] CDU NRW, Regierungsprogramm der CDU für Nordrhein-Westfalen 2017-2022, Seite 18, PDF-Datei mit 1,1 MB
[2] CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Rede Tobias Zech: "Werkverträge sind die Grundlage der deutschen Wirtschaft"