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06. Juli 2020, von Michael Schöfer
Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten


Rainer Wendt, der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, schreibt auf seiner Facebook-Seite: "Die jahrzehntelange Vernachlässigung staatlicher Strukturen, Personalabbau, Einkommenskürzungen und Demotivation der Beschäftigten hat sich längst negativ auf die Funktionsfähigkeit öffentlicher Verwaltung ausgewirkt. Jetzt werden die Beschäftigten durch fahrlässiges Gerede über angeblich strukturellen Rassismus und Polizeigewalt zusätzlich verunsichert und pauschal verunglimpft." [1] Das sei man "von linken Politikern und Medien (...) seit langer Zeit gewohnt". Als Zeuge benennt er den DPolG-Landesvorsitzenden von Baden-Württemberg, Ralf Kusterer.

Wobei man es auch für eine Stärke der öffentlichen Verwaltung halten könnte, wenn sie sich offen für Kritik zeigt. Aber da mauern konservative Politiker gerne, wie etwa die Weigerung von Bundesinnenminister Horst Seehofer, eine Studie über "Racial Profiling" durchführen zu lassen, schlagend belegt. Die Polizeigewerkschaften wiederum rufen reflexhaft "Generalverdacht", Iwan Petrowitsch Pawlow lässt grüßen. In Wahrheit offenbart die Aversion, eine konstruktive Fehlerkultur zu entwickeln und sich von unabhängiger Seite hinter die Fassade blicken zu lassen, eine eklatante Schwäche. Wer sich über jegliche Kritik erhaben wähnt, verliert nämlich den Kontakt zur Realität und leidet früher oder später an Hybris. Und dadurch, dass man nicht über sie redet, verschwinden ja mögliche Missstände nicht. Im Gegenteil, sie bleiben erhalten und verstärken sich am Ende sogar.

Zu guter Letzt sind das öffentliche Infragestellen und die daraus resultierende Kontrolle urdemokratische Gepflogenheiten. Wir sind bekanntlich eine Republik, der Begriff kommt vom lateinischen res publica (= öffentliche Sache). Die Republik soll uns vor dem gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat, wie ihn Franz Kafka in seinem Romanfragment "Das Schloss" beschrieben hat, bewahren. Oder um es mit den Worten von Charles de Montesquieu, dem theoretischen Begründer der Gewaltenteilung, auszudrücken: "Eine ewige Erfahrung lehrt, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu missbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt." Von etwas anderem auszugehen wäre naiv und gefährlich. Und es ist klug, die Grenzen eng zu ziehen.

Außerdem verhält sich Rainer Wendt (er ist Mitglied der CDU und der CSU) erkennbar unredlich, denn er hackt mit Vorliebe auf allen herum, die er als irgendwie links identifiziert. Das sind nebenbei bemerkt von seinem rechtskonservativen Standpunkt aus ziemlich viele, allerdings gerät er dabei ein ums andere Mal mit der Wahrheit in Konflikt. Nehmen wir nur das eingangs aufgeführte Zitat: Dort, wo Ralf Kusterer herkommt, in Baden-Württemberg, gab es in der Tat eine jahrzehntelange Vernachlässigung staatlicher Strukturen und Personalabbau bei der öffentlichen Verwaltung. Namentlich bei der Landespolizei. Aber daran waren, anders als Rainer Wendt suggeriert, mitnichten linke Politiker schuld, sondern vielmehr seine eigenen Parteifreunde.

Fakt ist: Ihren personellen Höchststand erreichte die baden-württembergische Landespolizei im Jahr 1996 ausgerechnet unter dem sozialdemokratischen Innenminister Frieder Birzele: 24.621 Stellen waren damals im Polizeivollzug ausgewiesen. Doch die SPD verlor im gleichen Jahr die Landtagswahl und schied aus der Landesregierung aus, fortan regierte bis 2011 die CDU gemeinsam mit der FDP. Mit einschneidenden Folgen für das Personal der Landespolizei, denn die Stellenzahl sank unter Schwarz-Gelb bis 2010 kontinuierlich auf bloß noch 23.963 Polizeibeamte ab. Seit 2011 regiert in Stuttgart bekanntlich der Grüne Winfried Kretschmann (in der ersten Legislaturperiode mit der SPD, in der zweiten mit der CDU als Juniorpartner) - und seitdem ging es auch bei den Stellen für Polizeibeamte aufwärts, nun sind es wieder fast so viele wie ehedem unter Birzele.

Übrigens: Eine unabhängige Untersuchungsstelle, die Vorwürfe gegen die Polizei prüft, existiert zum Beispiel schon seit längerem in England und Wales: das Independent Office for Police Conduct (IOPC). Ursprünglich 1985 als Police Complaints Authority (PCA) unter der konservativen (!) Premierministerin Margaret Thatcher eingerichtet, wurde es zuletzt 2017 unter der konservativen (!) Premierministerin Theresa May reformiert. Es gibt daher überhaupt keinen Anlass, Polizeibeauftragte als eine "von linken Parteien installierte Paralleljustiz" zu verunglimpfen. Formulieren wir es mit einem in Polizeikreisen äußerst beliebten Argument: "Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten." Oder gilt Transparenz immer bloß für die anderen?

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