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07. Juli 2020, von Michael Schöfer
Kein schlüssiges Konzept für die Bundeswehr


Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der damit verbundenen Wiedervereinigung tut sich Deutschland schwer mit der Bundeswehr im Allgemeinen und mit der Wehrpflicht im Besonderen. Die Sicherheitspolitik gleicht eher einer Achterbahnfahrt: Wird die Bundeswehr überhaupt noch gebraucht, fragte man sich nach 1990. Da die Landesverteidigung scheinbar in den Hintergrund trat, schließlich war das wiedervereinigte Deutschland fortan bloß von Freunden umgeben, baute man sie - etwas halbherzig - zur international einsetzbaren Interventionsstreitmacht um. Bis dann Russland die Krim annektierte und in den USA ein gewisser Donald Trump ins Weiße Haus einzog. Landesverteidigung? Stimmt, die wurde lange Zeit vernachlässigt, verdient aber neuerdings wieder unsere Aufmerksamkeit.

Rechtsextreme Umtriebe in der Bundeswehr wurden ebenfalls lange Zeit vernachlässigt. Als 2017 die damalige Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen der Bundeswehr ein Haltungsproblem attestierte, erntete sie viel Kritik. Sie musste sich angesichts des massiven Drucks sogar bei den Generälen und Admiralen für ihre pauschale Aussage entschuldigen. [1] Drei Jahre und etliche Vorfälle bei der Eliteeinheit KSK später durfte die aktuelle Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer unwidersprochen feststellen: "Die Frage [der rechtsextremistischen Tendenzen] betrifft nicht nur das KSK, sondern die gesamte Bundeswehr, darüber hinaus noch andere Sicherheitskräfte - und sie steht am Ende für die Glaubwürdigkeit dieses Staates." [2] Ist mit "anderen Sicherheitskräften" die Polizei gemeint? Saskia Esken lässt grüßen. Doch dazu schweigen sich selbst die für gewöhnlich schnell beleidigten Polizeigewerkschaften aus.

"Ich halte es für einen Riesenfehler, dass die Wehrpflicht ausgesetzt wurde", sagte die neue Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD). Das Echo auf Högls Ruf nach Wiedereinführung war überwiegend negativ, nicht zuletzt in ihrer eigenen Partei. Und man kann in der Tat trefflich darüber streiten, ob die Wehrpflicht in puncto Rechtsextremismus wirklich hilfreich wäre. Allerdings wissen auch die anderen Parteien nicht so recht, was sie eigentlich wollen. "Wir können nicht alle paar Monate unsere politischen Entscheidungen verändern", sagte der damalige bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer im Juni 2010 zur der von Karl-Theodor zu Guttenberg vorgeschlagenen Abschaffung der Wehrpflicht. "Die CSU werde an der sechsmonatigen Wehrpflicht festhalten. 'Wir sind eine Partei der Bundeswehr. Wir sagen ja zur Wehrpflicht.'" [3] Bloß um dann just ein paar Monate danach doch seine Meinung zu ändern: Im September 2010 war er plötzlich für die Aussetzung der Wehrpflicht. "Ich bin da für Ehrlichkeit. 'Aussetzen' heißt: In Friedenszeiten wird die Wehrpflicht niemand mehr einführen." [4]

Diese Unsicherheit hält im Grunde innerhalb der Union bis heute an. Die scheidende CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer kündigt einen neuen Freiwilligendienst in der Bundeswehr an, die Rückkehr zur Wehrpflicht lehnt sie indes ab. Die Junge Union lehnt die Wehrpflicht ebenfalls ab, genauso wie der jetzige CSU-Vorsitzende Markus Söder, will aber eine allgemeine Dienstpflicht für Männer und Frauen einführen, die jedoch mit dem Grundgesetz in Konflikt geraten dürfte. Ohne Verfassungsänderung schwer zu machen, sagen die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags in einer Ausarbeitung. [5] Der CDU-Bundestagsabgeordnete Patrick Sensburg, im Nebenjob Präsidenten des Reservistenverbandes, ist wiederum für die Wehrpflicht. Ihre Aussetzung war ein Fehler, bekräftigt er. Wobei sich die Konservativen innerhalb der Union mit der Aussetzung der Wehrpflicht generell schwer taten, was bei einigen bis heute anhält. Dort hat das böse Wort der "Sozialdemokratisierung der CDU" durchaus noch Konjunktur. Die personifizierte Sozialdemokratisierung ist in deren Augen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es ist der ewig gleiche Widerstreit zwischen Tradition und Modernisierung.

Ein schlüssiges und verteidigungspolitisch sinnvolles Konzept ist derzeit jedenfalls nicht in Sicht. Da ist noch vieles unausgegoren. Einig ist man sich immerhin darin, die mittlerweile marode Bundeswehr nicht weiterhin kaputt zu sparen. Wenn man aber die Einführung der Wehrpflicht aus organisatorischen Gründen abgelehnt, etwa weil der Umgang mit den komplexen Waffensystemen nach wenigen Monaten Ausbildung kaum zu beherrschen ist, was würde dann der von Kramp-Karrenbauer angestrebte Freiwilligendienst (sechs Monate militärische Grundausbildung, sechs Monate Reservedienste) daran grundlegend ändern? Für die Verteidigungsfähigkeit ist er eher zu vernachlässigen, während das Problem mit dem Rechtsextremismus bestehen bleibt, weil sich wahrscheinlich abermals nur die dafür melden dürften, die ohnehin eine Affinität fürs Militärische haben. Und diese Freiwilligen wird man wohl kaum in gefährliche Auslandseinsätze schicken, was die Belastung der Stammtruppe somit um keinen Deut mindert.

Es bleibt als Fazit festzuhalten: Es gibt momentan kein klares Konzept für die Bundeswehr. Weder was ihre Ausrichtung (Interventionsarmee oder Territorialverteidiung) noch was die Verhinderung der rechtsextremen Unterwanderung angeht. Vielleicht wäre es hilfreich, gerade in dieser für das Land existenziellen Frage nach einem parteiübergreifenden Konsens zu suchen (sofern dieser überhaupt herstellbar ist), beim Kohleausstieg hat es ja auch geklappt.

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[1] Leipziger Volkszeitung vom 05.05.2017
[2] tagesschau.de vom 05.07.2020
[3] Augsburger Allgemeine vom 06.06.2010
[4] Spiegel-Online vom 11.09.2010
[5] Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Möglichkeit der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für Frauen und Männer nach deutschem Verfassungsrecht, 2016, PDF-Datei mit 207 KB