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12. Juli 2020, von Michael Schöfer
Stammbaumrecherche erinnert an die NS-Zeit


"Vermutlich wird die Öffentlichkeit bald die Stammbäume der Tatverdächtigen der Stuttgarter Krawallnacht vom 21. Juni kennen. Das hatte Polizeipräsident Franz Lutz am Donnerstagabend im Gemeinderat angekündigt, als er dort auf einen Antrag der CDU hin zum aktuellen Ermittlungsstand berichtete. Er kündigte an, dass die Polizei auch bei den Tatverdächtigen mit deutschem Pass mithilfe der Landratsämter deutschlandweit Stammbaumrecherche betreiben werde", meldet die Stuttgarter Zeitung. [1]

Was dabei herauskommen soll, ist vollkommen schleierhaft. Zu welchen Erkenntnissen sollen diese "Stammbaumrecherchen" führen? Etwa: Tatverdächtige mit Herkunft eines Großeltern- oder Elternteils aus dem Land XY neigen überproportional zu kriminellen Handlungen, im vorliegenden Fall zu Randale in der Stuttgarter Innenstadt? Das ist doch absurd. Ob die Kriminologie von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt einen Rückschritt von 100 Jahren gemacht hat, wage ich zu bezweifeln. Vor allem: Auf welchem theoretischen Fundament ruht dieses Ansinnen? Vielleicht auf einem biologistischen? Die Äußerungen von Franz Lutz legen genau das nahe.

Ich bin ehrlich gesagt entsetzt, denn die "Stammbaumrecherche" erinnert leider an die unselige Zeit vor 1945 und das damals übliche NS-Vokabular. In der nationalsozialistischen Kriminologie betrieb man nämlich "Sippenforschung", und damals stellte man ebenfalls "Verbrecherstammbäume" auf. [2] Hintergrund war die groteske Rassenideologie der Nazis, die von einer angeblichen biologischen Vererbbarkeit von Kriminalität ausging. [3]

Die Folgen sind hinreichend bekannt. Unter anderem wurden Individuen aufgrund ihrer Erbanlagen in die Gruppe der "Asozialen" eingeordnet und als "rassisch minderwertige Volksfeinde" verunglimpft. Motto: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Eine daraus resultierende Folge war die "kriminalpolizeiliche Vorbeugungshaft". "Selbst jemand, der bisher noch nie vor Gericht stand, konnte festgehalten werden, wenn die Polizei einen 'verbrecherischen Willen' unterstellte." [4] Aus rassenhygienischen Gründen wurden "Asoziale" in den Konzentrationslagern ermordet. "NS-Führer vertraten die Vorstellung von der Polizei als einem Arzt, der Deutschland von allen Entarteten und Degenerierten säubern konnte, eine Vorstellung, die sich zunehmend rassistisch einfärbte." [5]

Dass die Stuttgarter Polizei glaubt, im Jahr 2020 mit einer "Stammbaumrecherche" an die Tradition der NS-Zeit anknüpfen zu müssen respektive zu können, ist unfassbar. Und dieser Rassismus ist nicht mehr latent, sondern für alle offenkundig.

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[1] Stuttgarter Zeitung vom 11.07.2020
[2] Andrea Elisabeth Sebald, Der Kriminalbiologe Franz Exner (1881-1947), Gratwanderung eines Wissenschaftlers durch die Zeit des Nationalsozialismus, Seite 123
[3] Universität Konstanz, Magisterarbeit von Martin Eberhardt, Die Kriminalpolizei 1933 - 1939, PDF-Datei mit 310 KB
[4] Nikolaus Wachsmann, KL, Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Seite 170
[5] Nikolaus Wachsmann, KL, Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Seite 177

Nachtrag (12.07.2020, 21:00 Uhr):
Wie das Polizeipräsidium Stuttgart in einer Pressemitteilung bekanntgab, habe sich ein Vertreter der Stadt Stuttgart den Tonmitschnitt der Gemeinderatssitzung angehört: "In der 16-minütigen Ausführung des Polizeipräsidenten Franz Lutz ist zu keinem Zeitpunkt die Rede von einer Stammbaumforschung [sic]. Er spricht von bundesweiten Recherchen bei Standesämtern, da bei elf deutschen Tatverdächtigen ein Migrationshintergrund noch nicht gesichert ist." Das macht es, selbst wenn der Terminus "Stammbaumrecherche" nicht gefallen sein sollte, kaum besser, denn sinngemäß bedeutet es das Gleiche. Bei deutschen Tatverdächtigen soll überprüft werden, ob ein Elternteil einer anderen ethnischen Herkunft zuzurechnen ist. Das ist faktisch die Erforschung des Stammbaums. [6] Was das Ganze noch fragwürdiger erscheinen lässt: "Die PKS [Polizeiliche Kriminalstatistik] differenziert zwischen deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen. Kriterium ist die Staatsangehörigkeit, dabei wird ein eventueller Migrationshintergrund nicht berücksichtigt." [7] Wozu will Lutz den Migrationshintergrund recherchieren lassen, wenn dieser gar nicht in die Kriminalstatistik einfließt?

[6] Zur Problematik der Definition "Migrationshintergrund" siehe Wann wird man als echter Deutscher anerkannt? vom 12.07.2020
[7] Bundesinnenministerium, Polizeiliche Kriminalstatistik 2019, Ausgewählte Zahlen im Überblick, PDF-Datei mit 949 KB, Seite 8