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17. Juli 2020, von Michael Schöfer
Die Vorwürfe fallen wie ein Kartenhaus in sich zusammen


Niemand muss Angst vor Antidiskriminierungsgesetzen haben, am wenigsten die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Im Gegenteil, Staatsbedienstete (die Hüter und Anwender unserer Gesetze) sind der Verfassung besonders verpflichtet und müssten daher aus eigenem Antrieb heraus die Einhaltung des Diskriminierungsverbots begrüßen. Warum sollte also das Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz (LADG) ausgerechnet diesen Personenkreis ängstigen? Glaubt man den Verlautbarungen der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), bekommt man allerdings einen ganz anderen Eindruck. Dabei werden bedauerlicherweise Halb- und Unwahrheiten kolportiert, die einer näheren Überprüfung kaum standhalten. Das ist unseriös.

"Das neue Gesetz stellt die Polizei quasi unter den Generalverdacht, grundsätzlich und strukturell zu diskriminieren", behauptet beispielsweise Jürgen Ascherl, kommissarischer Landesvorsitzender der bayerischen DPolG. [1] Gemeint ist das Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz. "Das LADG erleichtert durch seine Beweislastumkehr in der Folge auch Klagen gegen Polizistinnen und Polizisten", kritisiert Ronald Müller, DPolG-Landesvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern. [2] "Jeder ist unschuldig, bis das Gericht ihm seine Schuld bewiesen hat", heißt es in einer anderen DPolG-Postille, aber dieser Grundsatz werde bei der Beweislastumkehr ad acta gelegt. Man sieht sich bereits wehrlos vor dem Kadi stehen: "In der Praxis bedeutet die Beweislastumkehr, dass nicht durch ein Gericht die Schuld eines Angeklagten nachgewiesen wird, sondern dass der Beschuldigte seine Unschuld beweisen muss." [3] Es sind stets die gleichen schablonenhaften Einwände, substanzlosen Argumente und maßlosen Übertreibungen.

"Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung." Eine alte, aber bewährte Juristenweisheit, die leider allzu oft außer Acht gelassen wird. Wer sich nicht die Mühe macht, in den Gesetzestexten, den Kommentaren und parlamentarischen Dokumenten nachzulesen, was die Intention des Gesetzgebers ist respektive war, fällt leicht auf die zielgerichtete Propaganda von Interessengruppen herein. Dass Rechtskonservativen wie dem umstrittenen DPolG-Bundesvorsitzenden Rainer Wendt die rot-rot-grüne Berliner Landesregierung natürlich ein Dorn im Auge ist, vermag man noch nachzuvollziehen. Aber rechtfertigt das fragwürdige Methoden, die man durchaus mit "Verbreitung von Fake-News" charakterisieren könnte? Ich meine, nein. Honorige Gewerkschafter agieren anders, und zwar besonnener.

Zunächst: Wer nicht diskriminiert, hat nichts zu befürchten. "Die Berliner Polizei diskriminiert nicht", sagt Rainer Wendt. "Unsere Polizistinnen und Polizisten haben einen Eid auf unser Grundgesetz geleistet und fühlen sich der Menschenwürde als zentralem Element unserer Verfassung in besonderer Weise verpflichtet." [4] Na bitte, dann ist eigentlich alles in Ordnung. Wenn Diskriminierungen, falls sie überhaupt vorkommen, bloß die berühmt-berüchtigten Einzelfälle sind, kann man ja das Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz entspannt auf sich zukommen lassen. Warum dieser unsägliche Alarmismus, wie wenn durch ein Antidiskriminierungsgesetz die Welt untergehen würde? Im Grunde ist das diskriminierungsfreie Handeln im Rechtsstaat eine pure Selbstverständlichkeit.

Aber auch davon abgesehen wird kein Polizist als Angeklagter in Beweisnot vor dem Strafrichter stehen. Das Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz schließt das ausdrücklich aus, in der Gesetzesbegründung steht nämlich Folgendes: "Klagen sind gegen das Land Berlin zu richten." (Seite 32) [5] Nicht der einzelne Beschäftigte des öffentlichen Dienstes wird auf Schadenersatz verklagt und muss gegebenenfalls zahlen, sondern allein das Land Berlin. Und diese Klagen finden vor den Verwaltungs- und Zivilgerichten statt. Dort ist das Land Berlin die "Beklagte". Termini sind im vorliegenden Fall wichtig, wie wir gleich sehen werden.

"Angeklagter" ist man ausschließlich vor den Strafgerichten, aber die Anwendung des Strafgesetzbuches wird vom LADG explizit verworfen. Die darin enthaltene Beweislastumkehr (Vermutungsregel) bezieht sich auf Artikel 8 der EU-Richtlinie RL 2000/43/EG und Artikel 9 der EU-Richtlinie RL 2004/113/EG. In beiden steht in Absatz 1: "Die Mitgliedstaaten ergreifen im Einklang mit ihrem nationalen Gerichtswesen die erforderlichen Maßnahmen, um zu gewährleisten, daß immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, daß keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat." Aber Absatz 3 schränkt ein: "Absatz 1 gilt nicht für Strafverfahren." [6]

Das Land Berlin folgt also mit der Beweislastumkehr bei Diskriminierungen nur den seit langem gültigen Richtlinien der Europäischen Union. Obendrein ist Diskriminierung im StGB gar kein eigenständiger Straftatbestand, es müssten deshalb schon Straftaten wie Beleidigung (§ 185 StGB) oder Volksverhetzung (§ 130 StGB) hinzukommen, um als "Angeklagter" vor dem Amts- oder Landgericht zu landen. Und ohne Gesetz bekanntlich keine Strafe (nulla poena sine lege). Außerdem: "Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang." [7] Das Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz wäre aus verfassungsrechtlichen Gründen gar nicht in der Lage, in Strafverfahren eine Beweislastumkehr vorzuschreiben, dazu fehlt dem Land Berlin schlicht und ergreifend die gesetzgeberische Kompetenz.

Die Beweislastumkehr gilt auch expressis verbis weder für eine mögliche Regressnahme noch bei Disziplinarverfahren: "Im Rahmen möglicher Regressverfahren des Landes Berlin gegen Beamte und Beamtinnen bzw. gegen Angestellte des öffentlichen Dienstes findet die Vermutungsregelung keine Anwendung; es verbleibt insofern bei den herkömmlichen disziplinarrechtlichen Anforderungen und Beweislastverteilungen nach § 47 Absatz 1 Satz 1 Beamtenstatusgesetz." (Seite 30, Hervorhebung durch den Autor) Anders ausgedrückt: Was das angeht wird das bisherige Recht weiterhin unverändert beibehalten.

Im Übrigen ist das Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz zweifelsohne auch kein Generalverdacht gegen die Polizei. Es bekräftigt vielmehr lediglich das im Grundgesetz (Artikel 3), im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, in der Grundrechtecharta der Europäischen Union (Artikel 21) und in diversen EU-Richtlinien niedergelegte und bereits jetzt geltende Diskriminierungsverbot. Spräche das LADG einen Generalverdacht aus, gälte das naturgemäß für die anderen Gesetze ebenfalls. So eine Ansicht wäre natürlich vollkommen absurd.

Zu guter Letzt: Die Beweislastumkehr bei Diskriminierungen existiert hierzulande bereits - und das schon seit 2006: "Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat." So lautet § 22 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Von einer Klageflut oder prozessualen Nachteilen für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes ist bislang nichts bekannt geworden.

Ob es angesichts dessen wirklich eines landeseigenen Antidiskriminierungsgesetzes bedurft hätte, steht auf einem anderen Blatt. Wie dem auch sei, die Vorwürfe der Deutschen Polizeigewerkschaft fallen jedenfalls wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

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[1] Presseportal, DPolG Bayern vom 05.06.2020
[2] DPolG Mecklenburg-Vorpommern vom 19.06.2020
[3] DPolG KV Heidelberg, De Uffbasser Juli 2020, online nicht verfügbar
[4] Tichys Einblick vom 10.06.2020
[5] berlin.de, Abgeordnetenhaus-Drucksache 18/1996 vom 12.06.2019, PDF-Datei mit 167 KB
[6] Eur-Lex, Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, Amtsblatt Nr. L 180 vom 19/07/2000 S. 0022 - 0026 und Eur-Lex, Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, Hervorhebung durch den Autor
[7] Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 08.03.2017, 2 BvR 2282/16