Home
| Archiv | Leserbriefe
| Impressum 02. September 2020, von Michael Schöfer Es wird alles schlechter Wird wirklich alles schlechter? Oder beruht der Eindruck bloß auf einer selektiven Wahrnehmung unsererseits? Katastrophenmeldungen bleiben ja viel länger im Gedächtnis haften als positive Nachrichten. In diesen aufgeregten Zeiten werden allzu gerne vermeintliche Tatsachen verbreitet, die jedoch den objektiven Fakten widersprechen. Neudeutsch sagt man dazu "Fake-News". Das hindert allerdings empörte Bürger nicht, unter Berufung auf diese Fake-News gegen "das System" zu demonstrieren und lautstark zu protestieren. Oft noch angeheizt durch interessierte Kreise, die etwa unter dem Deckmantel der Kritik an der Corona-Politik der Regierung etwas ganz anderes im Schilde führen. Um nicht missverstanden zu werden: In einer Demokratie steht es jedermann frei, friedlich auf die Straße zu gehen und für sein Anliegen zu werben - was immer das auch sei (die Grenze hierbei bildet das Strafrecht). Das Bundesverfassungsgericht räumt der Meinungsfreiheit zu Recht einen großen Spielraum ein. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit schützt nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen, Kritik darf sehr wohl pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen. [1] "Auch scharfe und überzogene Kritik entzieht eine Äußerung nicht dem Schutz des Grundrechts. Werturteile sind vielmehr durchweg von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt, ohne daß es darauf ankäme, ob die Äußerung 'wertvoll' oder 'wertlos', 'richtig' oder 'falsch', emotional oder rational ist." [2] "Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt. Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt." [3] Insofern darf man durchaus unterschiedlicher Meinung sein, was in einer pluralistischen Gesellschaft ohnehin die Regel und keine Ausnahme ist. Hilfreich wäre jedoch, wenn man wenigstens die Fakten anerkennt und als gemeinsame Ausgangsbasis für die Bewertung heranzieht. Ohne gemeinsame Faktenbasis wird man kaum zu einer Einigung kommen. Angeregt durch eine Diskussion auf Twitter, bei der beklagt wurde, dass Deutschland immer unsicherer geworden sei, habe ich mir die Zahlen der Kriminalitätsentwicklung seit der Wiedervereinigung besorgt (erste gesamtdeutsche Statistik 1993). Und sie fördern Überraschendes zutage - zumindest wenn man die landläufig kolportierte Ansicht vertritt, alles werde schlechter. Der objektive Maßstab für die Kriminalitätsentwicklung ist die Häufigkeitszahl = Fälle pro 100.000 Einwohner. Die absoluten Fallzahlen sind naturgemäß verzerrt, weil sie Änderungen bei der Bezugsgröße (Gesamtzahl der Einwohner) ignorieren. Im Folgenden deshalb die Entwicklung der Kriminalität im wiedervereinigten Deutschland anhand der Häufigkeitszahl. [4]
Niemand behauptet, wir hätten gar keine Probleme. So gibt es in bestimmten Bereichen zweifellos besorgniserregende Entwicklungen (z.B. bei den Sexualdelikten). Doch zwischen der subjektiven Wahrnehmung der Kriminalität und der objektiven Kriminalitätsentwicklung (Verringerung zw. 1993 u. 2019 um 21,46 %) klafft eine riesengroße Lücke. Vielleicht lassen wir uns zu sehr von der reißerischen Berichterstattung der Medien oder den zum Teil bösartigen Kommentaren auf den Social-Media-Plattformen beeinflussen. Wie dem auch sei, jedenfalls ist es falsch zu behaupten, Deutschland werde immer unsicherer. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall: Deutschland war noch nie so sicher wie heute. ----------
[1]
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 08.02.2017, 1 BvR
2973/14
[2]
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 25.08.1994, 1 BvR
1423/92
[3]
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 15.01.1958, 1 BvR
400/51
[4]
1993-2004: BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik
2006, Seite 28, PDF-Datei mit 10 MB
2005-2019:
BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik
Jahrbuch 2019, Band 1, Seite 16, PDF-Datei mit 1,3 MB
|