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04. November 2020, von Michael Schöfer
Ein Debakel in mehrfacher Hinsicht


Obgleich die Demoskopen angeblich aus dem Debakel von 2016 gelernt haben, wiederholt es sich bei den Präsidentschaftswahlen 2020 erneut.

Beispiel Florida: Umfragen kurz vor der Wahl sahen Joe Biden mit 49 % deutlich vor Donald Trump mit 47 %. Nach ausgezählten 96 % der Stimmen führt dort aber Trump mit 51,2 %, während sich Biden mit 47,8 % begnügen muss.

Das Beispiel Pennsylvania ist noch krasser: Umfragen kurz vor der Wahl sahen Biden mit 50 % klar vor Trump mit 46 %. Nach ausgezählten 79 % der Stimmen führt dort Trump mit 53,9 % vor Biden (44,8 %). [1]

Offenkundig nehmen selbst die für gewöhnlich gut informierten Demoskopen nicht mehr die ganze Realität in dem zerrissenen Land wahr, große Bereiche befinden sich unterhalb ihres Radars.

Zumindest US-Präsident Donald Trump reagiert, wie man es im Vorfeld von ihm erwartet hat. Obgleich er nach dem gegenwärtigen Stand mit 213 Wahlmännerstimmen hinter Joe Biden (227 Wahlmännerstimmen) zurückliegt, erklärt er sich vorzeitig zum Sieger der Präsidentschaftswahl und will die weitere Auszählung gerichtlich stoppen lassen.

Das ist insbesondere vor dem Hintergrund des aktuellen Auszählungsstandes völlig absurd, denn in Nevada (6 Wahlmännerstimmen), Arizona (11 Wahlmännerstimmen), Wisconsin (10 Wahlmännerstimmen) und Michigan (16 Wahlmännerstimmen) führt sein Konkurrent. Gewinnt Biden diese Bundesstaaten, erreicht er im Electoral College genau die für eine Mehrheit notwendigen 270 Stimmen, die ihn zum US-Präsidenten machen würden.

So ein Verhalten, wie das von Trump, kennt man eigentlich nur aus Autokratien. Auch dort (vgl. Russland oder Belarus) wird versucht, Wahlen zu klauen, indem man Wahlergebnisse fälscht. Dass Trump "Betrug" reklamiert ist grotesk, denn es ist ja gerade er, der zu betrügen versucht. Wer nicht mehr gewillt ist, sich an die grundlegenden Regeln zu halten, zerstört die Demokratie. Und man kann nur hoffen, dass wenigstens die Gerichte standhaft die Verfassung der Vereinigten Staaten verteidigen. Jede abgegebene Stimme muss zählen. Falls nicht, droht der endgültige Absturz der ältesten Demokratie der Welt. Diese Wahl ist der endgültige Lackmustest, ob der Supreme Court ideologisch oder gemäß der Verfassung urteilt.

Der in den Umfragen prognostizierte Erdrutschsieg für Biden und die Demokratische Partei ist bedauerlicherweise ausgeblieben. Es ist ihnen selbst im Senat nicht gelungen, die Mehrheit zu erobern, bei sechs noch auszuzählenden Senatssitzen steht es derzeit 47 zu 47. Zur Erinnerung: Bei einem Patt gibt im Senat laut Verfassung der Vizepräsident den Ausschlag (Artikel 1 Abschnitt 3). Trump könnte sein Zerstörungswerk nahezu ungehindert fortsetzen.

Wer sich ein bisschen mit Geschichte befasst, der wird feststellen, dass der Kollaps von Staaten keineswegs nur durch Eroberung von außen ausgelöst wird. Oft geht zumindest ein längerer innerer Zerfall voraus, der für die Schwächung der Widerstandskraft ursächlich war. Das berühmteste Beispiel ist das Römische Reich: Die Römische Republik zerfiel nach einer Phase, die durch Diktatur und Bürgerkrieg geprägt war. In der Spätzeit der Römischen Republik (509 v. Chr. - 27 v. Chr.) verloren die Plebejer (lat. plebs "Menge, Volk") mehr und mehr an politischem Einfluss und ökonomischer Teilhabe. Versuche, diese Entwicklung rückgängig zu machen (Gracchische Reformen), endeten mit der Ermordung der Reformer. Die anschließende Kaiserzeit (27 v. Chr. - 476 n. Chr.) verschärfte jedoch die Probleme, die schon zum Untergang der Republik führten. Die ökonomischen Unterschiede wuchsen, ebenso die inneren Auseinandersetzungen. "Seit Ende des zweiten Jahrhunderts waren Bürgerkriege im Römischen Reich üblich geworden. Vom Tod des Marcus Aurelius im Jahr 180 bis zum Zerfall des Weströmischen Reiches im Jahr 476 verging kaum ein Jahrzehnt ohne einen Bürgerkrieg oder einen Staatsstreich. Wenige Kaiser starben eines natürlichen Todes oder fielen in der Schlacht. Die meisten wurden von Thronräubern oder von ihren eigenen Soldaten ermordet." [2]

Die Völkerwanderung, der Einfall der "Barbaren" ins Römische Reich (ab 375 n. Chr.), war demzufolge nicht die Ursache, sondern lediglich eine schier unabwendbare Folge des inneren Zerfalls. Kurz gesagt: Die Römer sind letztlich am Egoismus und an der Blindheit ihrer Politiker gescheitert, ohne diese selbst verursachte Schwächung hätten sie wahrscheinlich dem äußeren Druck standgehalten. Genau die gleiche Blindheit sieht man momentan bei der Republikanischen Partei (GOP), die für den Machterhalt gewillt ist, sehenden Auges das Fundament der Demokratie in Stücke zu reißen und dadurch die Zukunft des Landes aufs Spiel zu setzen. Doch wer Wind sät, wird bekanntlich Sturm ernten.

Dringend reformbedürftig erscheint vor allem das antiquierte Wahlsystem. Bereits 2016 hat Hillary Clinton landesweit 2,87 Mio. mehr Stimmen bekommen als Donald Trump - und hat die Wahl dennoch verloren. Setzt sich 2020 am Ende doch noch Trump durch, könnte Biden das gleiche Schicksal ereilen. Durch die Mehrheitswahl auf der Ebene der Bundesstaaten gehen jeweils die Stimmen der Minderheit unter. Es reicht völlig, wichtige Bundesstaaten knapp zu gewinnen, um im Electoral College die Nase vorn zu haben. Auf eine Stimmenmehrheit beim Popular vote kommt es daher gar nicht mehr an. Mit anderen Worten: Das System spiegelt nicht mehr den wirklichen Wählerwillen wider. Etwas, das sich die USA auf Dauer nicht erlauben können.

Wer überwindet die tiefe Spaltung dieses Landes? Das ist heute fraglicher denn je, "the Land of the free" entwickelt sich rasend schnell zur Autokratie. Nicht umsonst rangiert die vielfach preisgekrönte Dystopie der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood ("Der Report der Magd" und deren Fortsetzung "Die Zeuginnen") auf den Bestseller-Listen weit oben.

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[1] New York Times, Auszählungsstand 04.11. 17:30 MEZ und Süddeutsche Zeitung, So steht es im US-Wahlkampf
[2] Daron Acemoglu / James A. Robinson, Warum Nationen scheitern, Frankfurt/Main 2013, Seite 211