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06. Januar 2021, von Michael Schöfer
Gelegentlich muss man auch mal sagen: "Gut gemacht!"


SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil twitterte im Mai 2019: "Ich bin Europäer und ich bin deutsch - mein Herz schlägt für Europa und für meine Heimat in der Lüneburger Heide. Europäisch denken & leben und vor Ort verwurzelt sein. Für mich ganz selbstverständlich. Leider nicht für alle." [1] Doch offenbar ist die SPD schon im Wahlkampfmodus, da gerät Europa bei Klingbeil schnell in Vergessenheit. Es sei zu wenig Impfstoff bestellt worden, beklagt er lautstark und zieht flugs die nationale Karte: "Es kann nicht sein, dass ein Land, in dem der Impfstoff sogar erforscht wurde, dass wir am Ende zu wenig Dosen davon haben." [2] Klingbeil entpuppt sich damit als Schönwetter-Europäer, dem im Zweifelsfall das nationale Hemd näher ist als der europäische Rock. Obendrein in der Sache auch noch vollkommen unberechtigt.

Ach Gott, das kennen wir ja von der SPD zur Genüge: Immer in Wahljahren entdecken die Sozialdemokraten plötzlich, dass die Regierung, an der sie als Juniorpartner beteiligt sind, schlechte Politik macht. Zumindest der konservative Teil der Regierung, mit dem sie angeblich rein gar nichts zu tun haben. Jedenfalls wollen sie uns das weismachen. Die SPD-Minister machen natürlich eine super Politik. So soll beim Wahlvolk der falsche Eindruck entstehen, dass die Regierungspartei SPD im Grunde zugleich die bessere Oppositionspartei ist. Doch das ist bloß Wahlkampfgetöse. Wir erinnern uns: 2013 hat Peer Steinbrück noch eine Woche vor der Wahl die Große Koalition kategorisch abgelehnt. Bei der Bundestagswahl gab es für Rot-Rot-Grün eine parlamentarische Mehrheit (320 von 631 Mandaten). Und was haben wir bekommen? Die GroKo!

Die Deutschen sind ein Volk der ewig aufgeregten Nörgler und vorlauten Besserwisser. In normalen Zeiten wird ja behauptet, in Deutschland gebe es 80 Millionen Bundestrainer. Doch das ist falsch, weil sich die weibliche Hälfte der Bevölkerung aus Fußball meist herzlich wenig macht. Aber wie dem auch sei, gleich zu Beginn der Corona-Pandemie mutierten die 80 Millionen Bundestrainer abrupt zu Virologen. Komplett. Jeder gab vor, ein kleiner Christian Drosten zu sein. Dass selbst Drosten angesichts des zu Beginn mageren Kenntnisstands die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 unterschätzte und für die Bevölkerung keine Gefahr sah, ging im Getöse völlig unter. [3] Irren ist menschlich. Entscheidend ist, die eigene Haltung zu revidieren, wenn es andere wissenschaftliche Erkenntnisse gibt. Das ist charakteristisch für den Homo sapiens. Und es ist keineswegs ehrenrührig, einen Irrtum einzugestehen. Im Gegenteil. Drosten hat seine Meinung längst geändert, doch bei vielen Bürgern hat man leider einen ganz anderen Eindruck.

Diese Selbstüberschätzung nennt man Dunning-Kruger-Effekt. Um nicht missverstanden zu werden: Jeder überschätzt sich selbst, und das recht häufig, denn im Grunde sind wir alle auf nahezu sämtlichen Fachgebieten blutige Laien. Der eigentliche Knackpunkt ist, das zu erkennen und sich offen einzugestehen. Das wusste bereits Sokrates (469 - 399 v. Chr.): "Wahrscheinlich weiß ja keiner von uns beiden etwas Rechtes; aber dieser glaubt, etwas zu wissen, obwohl er es nicht weiß; ich dagegen weiß zwar auch nichts, glaube aber auch nicht, etwas zu wissen. Um diesen kleinen Unterschied bin ich also offenbar weiser, dass ich eben das, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube." [4] Bei manchen Menschen kann man einen kuriosen Effekt beobachten: Anfangs glauben sie, alles zu wissen und anderen überlegen zu sein. Doch je mehr sie sich Wissen aneignen, desto bescheidener und demütiger werden sie. Das ist der sokratische Effekt: "Ich weiß, dass ich nichts weiß." Es stimmt ja auch: Je mehr man liest, desto mehr wird einem das eigene Unwissen bewusst. Vorteil: Man blamiert sich nicht mit Wissenslücken, die man rechtzeitig als solche erkennt.

Seitdem es einen Impfstoff gibt, wurden aus den ehemaligen Bundestrainern und Virologen mit einem Mal Impfstoff-Sachverständige. Und Lars Klingbeil, ein gelernter Politologe, Soziologe und Historiker, gehört anscheinend ebenfalls dazu. Dabei war von vornherein klar, dass der Impfstoff zunächst begrenzt ist. Doch das liegt weniger an vermeintlichen Fehlbestellungen, sondern an der limitierten Produktionskapazität. Presseberichten zufolge hat Deutschland genug Impfstoff geordert, um die gesamte Bevölkerung zu versorgen. [5] Nur eben nicht gleich im Dezember, das dauert nämlich.

Außerdem: Hierzulande sind 5,7 Mio. Menschen 80 Jahre und älter, das sind 6,8 Prozent der Bevölkerung. Allein für diese Risikogruppe brauchen wir 11,4 Mio. Impfdosen. Und da Ältere oft nicht mehr mobil sind, müssen sie mühsam und aufwendig von mobilen Impfteams in den Alten- und Pflegeheimen aufgesucht werden. Von den Alten, die noch zu Hause wohnen, ganz zu schweigen. Geradezu hirnrissig ist, dass manche Bundesgesundheitsminister Jens Spahn nachträglich dafür kritisieren, im Frühjahr oder Sommer nicht genug Impfstoff von Biontech bestellt zu haben. Doch zu diesem Zeitpunkt war ja noch gar nicht klar, ob der Impfstoff von Biontech überhaupt wirkt und ob er eine Zulassung bekommt, schließlich lief damals die klinische Prüfung erst an. Hätte Spahn voreilig bestellt und dabei aufs falsche Pferd gesetzt, würden ihn die gleichen Leute der Geldverschwendung zeihen. Sein Kabinettskollege Andreas Scheuer wird ja - zu Recht - dafür kritisiert, dass er bereits zu einem Zeitpunkt Pkw-Maut-Verträge abgeschlossen hat, als die Entscheidung des EuGH noch ausstand. Wie man es macht, ist es falsch.

Üblicherweise dauert die Impfstoffentwicklung 15 Jahre, und Anfang 2020 ging man noch davon aus, dass frühestens 2022 einer gegen SARS-CoV-2 zur Verfügung stehen würde. So gesehen ist das Ganze doch eine Erfolgsgeschichte. Kein Zweifel, Kritik ist notwendig, wo sie angebracht ist. Aber ständig ein Haar in der Suppe zu suchen, ist falsch und trägt zum Missmut der Bevölkerung bei. Gelegentlich muss man auch mal sagen: "Gut gemacht!" Selbst in Wahljahren.

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[1] Twitter, Lars Klingbeil vom 20.05.2019
[2] Morgenmagazin vom 04.01.2021
[3] DLF Nova vom 04.02.2020
[4] Wikipedia, Platon, Apologie des Sokrates
[5] Handelsblatt vom 08.12.2020