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31. Januar 2021, von Michael Schöfer
Mit ihren eigenen Waffen geschlagen


Erinnern wir uns überhaupt daran, dass gierige Spekulanten vor gut zehn Jahren eine folgenschwere Finanzkrise auslösten, von der wir uns noch immer nicht erholt haben? Erinnern wir uns daran, wie Hedgefonds damals gegen das durch diese Finanzkrise ohnehin schwer gebeutelte Griechenland wetteten, um mit der sozialen Not anderer viel Geld zu scheffeln? Wir sollten uns daran erinnern. Schon allein, weil es andere tun und nun die Spekulanten auf ihrem eigenen Spielfeld angreifen und mit den gleichen Waffen zurückschlagen.

Was ist passiert? Hedgefonds haben mit Leerverkäufen auf fallende Kurse der Computerspiele-Handelskette GameStop gewettet. Leerverkäufe funktionieren so: Jemand leiht sich gegen eine geringe Gebühr Aktien und verspricht, diese zu einem bestimmten Zeitpunkt an den Verleiher zurückzugeben. Anschließend verkauft er die geliehenen Aktien an der Börse. Sinkt der Kurs der Aktie, kann er diese günstiger zurückkaufen, die Kursdifferenz abzüglich der Leihgebühr ist sein Gewinn. Beispiel: Die Aktie XY wird für eine Gebühr von 0,10 Euro ausgeliehen und zu einem Kurs von 100 Euro verkauft. Wenn der Kurs nach drei Wochen auf 80 Euro gesunken ist, wird die Aktie zurückgekauft, der Gewinn des Leerverkäufers beträgt demzufolge 19,90 Euro. In großem Maßstab betriebene Leerverkäufe bringen den Kurs einer Aktie schon allein dadurch fast zwangsläufig zum Sinken, weil die Aktie massenhaft am Markt angeboten wird. Ist das Angebot größer als die Nachfrage, sinkt deren Marktwert.

Das Risiko des Leerverkäufers besteht im Steigen des Aktienkurses, schließlich muss er die Aktie an den Verleiher zurückgeben. Ist der Kurs inzwischen gestiegen, legt er drauf. Beispiel: Die Aktie XY wird ausgeliehen und zu einem Kurs von 100 Euro verkauft, nach drei Wochen beträgt der Kurs der Aktie - warum auch immer - 120 Euro. Der Spekulant hat sich verzockt und muss nun notgedrungen die Aktie zu 120 Euro kaufen, um sie an den Verleiher zurückzugeben. Das Verlustgeschäft kostet ihn 20,10 Euro, die er seinem Vermögen entnehmen muss. Hedgefonds spekulieren jedoch mit Millionenbeträgen, und wenn es komplett schief geht (Aktienkurse vervielfachen sich mitunter), können daraus rasch Milliardenverluste entstehen, am Ende steht vielleicht sogar die Pleite. Teufelskreis Marktmechanismus: Da die Leerverkäufer gezwungen sind, die Aktie zu kaufen, notfalls zu jedem Preis, können allein deren Kauforders das Kursniveau drastisch anheben und die daraus resultierenden Verluste der Spekulanten extrem vergrößern.

Und genau hier setzten im Fall von GameStop Kleinanleger an. Sie verabredeten auf der Social-News-Plattform Reddit, die GameStop-Aktie zu kaufen und so den Kurs (und damit einhergehend die Verluste der Hedgefonds) nach oben zu treiben. Die Verluste sollen sich auf 20 Mrd. US-Dollar summieren. Chapeau! Beobachter warnen indes: "Kleine Anleger, die sich jetzt als Gewinner sehen, werden die Verlierer sein", meint etwa Harald Freiberger in der Süddeutschen. Die Aktion schade aber nicht nur den Kleinanlegern, sie sei auch für die Aktienkultur in Deutschland hochgefährlich. [1] Doch das ist Kokolores, denn das Risiko der Kleinanleger ist, im Gegensatz zu dem der Hedgefonds, begrenzt und damit kalkulierbar. Die Kleinanleger nutzten nämlich die Broker-App "Robinhood", mit der man Aktien in Kleinstmengen (sogar in Bruchteilen) zum Nulltarif (d.h. provisionsfrei) kaufen oder verkaufen kann.

Auf der einen Seite stehen also wenige Hedgefonds, die jeweils per Leerverkäufe mit einem Millionenbetrag auf das Fallen des Aktienkurses gesetzt haben. Und auf der anderen Seite stehen Zigtausende sogenannter "Hobby-Anleger", von denen jeder Einzelne vielleicht nur ein paar Dollar eingesetzt hat. Bei wem liegt nun das größere Risiko? Natürlich bei den Hedgefonds, die unter dem Strich Milliarden verloren haben. Verlieren am Ende auch die Kleinanleger Geld, weil sich der Kurs der GameStop-Aktie irgendwann normalisieren wird, ist das für den einzelnen Kleinanleger verkraftbar. Es den skrupellosen Spekulanten einmal so richtig gezeigt zu haben, und das auch noch mit ihren eigenen Waffen, kann man sich allerdings mal ein paar Dollar kosten lassen, da tröstet der Triumph mit Sicherheit über den möglichen finanziellen Verlust hinweg.

Und wie sieht es mit der Aktienkultur aus? Wer sich darüber beklagt, hat offenbar erfolgreich verdrängt, dass die Börse sowieso längst zur Zockerbude verkommen ist. Spätestens seit dem Platzen der Internet-Blase zu Beginn des Jahrtausends weiß eigentlich jeder, dass das Geschehen an den Börsen nur noch wenig mit der Realwirtschaft zu tun hat. Das gilt insbesondere für die Leerverkäufe, denn die haben für die Realwirtschaft keinerlei Nutzen, sie dienen lediglich den Spekulanten. Bei diesem destruktiven Instrument wird nichts in die Wirtschaft investiert, um dort - beispielsweise durch die Entwicklung eines Impfstoffs - Gewinne zu generieren, es geht bei Leerverkäufen vielmehr bloß ums reine Zocken mit Wertpapieren. Und das auch noch mit Wertpapieren, die einem gar nicht gehören, sondern - gerade darin liegt ja die eigentliche Gefahr - ausgeliehen werden müssen. Leerverkäufe gelten daher zu Recht als Brandbeschleuniger von Finanzkrisen. Nicht ohne Grund wurden sie in den USA nach dem Börsencrash von 1929 eingeschränkt, die Auflagen aber mit der Deregulierung im Jahr 2007 wieder zurückgenommen. Leerverkäufe sollte man meiner Ansicht nach generell verbieten (was in der EU bislang nur für "ungedeckte" Leerverkäufe gilt).

Dennoch: Das Verlustrisiko ist der Börse inhärent, das sollten gerade Laien verinnerlichen. Vor allem, wenn das Handeln mit Wertpapieren durch neue Techniken wie der Broker-App "Robinhood" so einfach wie nur irgend möglich gemacht wird. Der Wertpapierhandel kann unter Umständen zur Sucht werden, bei der man schnell den Überblick verliert und sich in den finanziellen Ruin manövriert. André Kostolany, der wohl bekannteste Börsenspekulant des 20. Jahrhunderts, sagte einmal mit einer gewissen Selbstironie: "Ich gehe gerne in die Börsensäle, denn nirgends auf der Welt kann ich pro Quadratmeter so vielen Dummköpfen begegnen." Die Gefahr, an der Börse Dummheiten zu machen, ist durch die neuen Handelstechniken immens gewachsen (der Parketthandel ist ja mittlerweile weitgehend verschwunden). Die größere Zahl der Akteure allein ist nämlich nicht unbedingt ein Garant für das, was man neuerdings Schwarmintelligenz nennt, obgleich wir der GameStop-Aktion durchaus Intelligenz attestieren dürfen. Wenn Hobby-Anleger mitmischen, kann das die Zockerbude nachhaltig verändern, aber womöglich nicht zum Guten. Das Marktgeschehen wird vielleicht noch unberechenbarer als es ohnehin schon ist. Wie dem auch sei, zumindest dürften professionelle Spekulanten künftig vorsichtiger agieren, weil sie von jetzt an die untereinander abgestimmte Reaktion von Kleinanlegern einkalkulieren müssen.

Alles in allem hat sich die Deregulierung der Finanzmärkte als Irrweg erwiesen. Das Senken der Markteintrittsschwelle von Kleinanlegern via "Robinhood" passt nur, wenn man diesen Umstand als logische Fortschreibung der Deregulierung begreift. Für diejenigen, die sich Finanzmarktstabilität wünschen, fährt der Zug dadurch jedoch genau in die entgegengesetzte Richtung. Wir bräuchten Mechanismen, die das Zocken einschränken - keine, die es erleichtern. Wohlgemerkt, das Zocken von Profis und Amateuren. Dass diesmal die Hedgefonds ordentlich eins auf die Nase bekommen haben, ändert daran keinen Deut, selbst wenn man sich darüber riesig freuen darf.

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[1] Süddeutsche vom 30.01.2021, Printausgabe Seite 22