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04. Februar 2021, von Michael Schöfer
Mit Logik hat das nichts zu tun


Es ist ja keineswegs so, dass der Zynismus der Mächtigen bloß auf Russland oder China begrenzt wäre. Nein, auch im Westen kommen manche zu ziemlich verqueren Rechtsauslegungen. Beispiel Murat Kurnaz. Der in Deutschland geborene und aufgewachsene Türke wurde 2001 in Pakistan verhaftet und ans US-Militär in Afghanistan übergeben, das ihn als "feindlichen Kämpfer" einstufte und nach Guantanamo verfrachtete. Dort bliebt er unter menschenrechtswidrigen Umständen ohne Anklage bis 2006 inhaftiert. Doch Kurnaz war kein Terrorist, vielmehr bloß zur falschen Zeit am falschen Ort.

2004 kündigte der damalige Bremer Innensenator Thomas Röwekamp (CDU) an, Kurnaz dürfe nicht mehr nach Deutschland einreisen, weil "seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis wegen eines mehr als sechsmonatigen Auslandsaufenthalts erloschen sei. Kurnaz habe versäumt, die in solchen Fällen vorgeschriebene Verlängerung der Wiedereinreisefrist zu beantragen." [1] Ursprünglich stammte diese Interpretation von Hans-Georg Maaßen, der seinerzeit im Bundesinnenministerium der zuständige Referatsleiter war. Doch Kurnaz konnte die Verlängerung gar nicht beantragen, er war ja, wie allgemein bekannt, rechtswidrig in Guantanamo eingesperrt.

Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny muss wieder ins Gefängnis, weil er es unterlassen hat, seinen Bewährungsauflagen nachzukommen. Nawalny habe sich nicht wie verlangt persönlich bei den russischen Behörden gemeldet. Klar, denn er lag ja - Kurnaz lässt grüßen - ohne eigenes Verschulden wegen einer Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok in der Berliner Charité im Koma und erholte sich anschließend im Schwarzwald in der Reha. Mutmaßlich geht der Mordanschlag auf das Konto des russischen Geheimdiensts FSB, weshalb die russischen Behörden selbst für die Nichtbefolgung der Bewährungsauflagen verantwortlich sind. Das Moskauer Stadtgericht sprach Nawalny ungeachtet dessen schuldig.

Genau hier zeigt sich der Unterschied zwischen Demokratie und Autokratie: In Deutschland gibt es einen funktionierenden Rechtsstaat und unabhängige Gerichte. Das Verwaltungsgericht Bremen hat in seinem Urteil vom 30.11.2005 das Erlöschen von Kurnaz' Aufenthaltserlaubnis wieder einkassiert. Tenor: "Eine Aufenthaltserlaubnis erlischt (...) nicht wegen einer längerfristigen Ausreise, wenn es dem Ausländer unmöglich ist, rechtzeitig wieder einzureisen oder einen Antrag auf Verlängerung der Frist zu stellen." Solche Souveränität ist russischen Richtern fremd, sie haben anstatt den Gesetzen höheren Weisungen zu folgen. Vermutlich im Fall Nawalny welchen direkt aus dem Kreml.

Die - im Gegensatz zur deutschen - abhängige russische Justiz gelangt in ihren Urteilen öfter zu unlogischen und mitunter sogar höchst skurrilen Urteilen. Nawalnys Bewährungsauflagen resultieren aus einem Prozess im Jahr 2014, in dem der Oppositionspolitiker wegen Betrugs zum Nachteil des Kosmetikkonzerns Yves Rocher verurteilt wurde. Allerdings erklärte der vermeintlich Geschädigte, ihm sei gar kein Schaden entstanden. Egal, das Gericht sprach Nawalny auch ohne Vorliegen des Tatbestandsmerkmals schuldig (Artikel 159 StGB RF: Diebstahl von Eigentum anderer Personen oder Erwerb des Rechts auf Eigentum anderer Personen durch Täuschung oder Vertrauensbruch). So ist das eben, wenn die Justiz bloß das willige Instrument der Herrschenden ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kam 2017 zu dem Schluss, das Urteil des russischen Gerichts sei "willkürlich und deutlich rechtswidrig".

Kaum zu glauben: Der Anwalt Sergej Magnitski starb 2009 in russischer Untersuchungshaft, was die russische Justiz dennoch nicht davon abhielt, ihm 2013 posthum den Prozess wegen Steuerhinterziehung zu machen und Magnitski am Ende auch noch zu verurteilen. Wie der Verurteilte den Urteilsspruch aufnahm, ist nicht überliefert.

Mit Logik hat das alles nichts zu tun, es ist vielmehr staatliche Willkür. Und die Willkür hat einen Namen: Wladimir Putin. Der "Opi in seinem Bunker", der laut Nawalny als "Unterhosengiftmörder" in die Geschichte eingehen wird.

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[1] Wikipedia, Murat Kurnaz