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24. März 2021, von Michael Schöfer
Die Parallelen sind frappierend


Wir haben ein totalitäres Regime, das die Bürger bespitzelt und bevormundet. Wir haben eine Volksgruppe, die diskriminiert, entrechtet und in Lager gesperrt wird. Wir haben territoriale Ansprüche gegenüber den Nachbarstaaten und die Bereitschaft, militärische Gewalt anzuwenden. Wir haben einen eklatanten Bruch des Völkerrechts und den Verstoß gegen rechtsgültig unterzeichnete Verträge. Wir haben die Unterdrückung von Demokraten und deren Inhaftierung. Wir haben eine Partei, die keine Konkurrenz duldet und das Parlament zu einem reinen Erfüllungsgehilfen degradiert hat. Wir haben ein Land, das in der Vergangenheit nach subjektiver Einschätzung gedemütigt wurde und sich nun zum regionalen Hegemon, wenn nicht sogar zur vorherrschenden Weltmacht emporschwingt.

Frage: Beschreibe ich damit das Nazi-Deutschland der dreißiger Jahre oder die Volksrepublik China anno 2021?

Wer darauf spontan keine Antwort geben kann, liegt m.E. richtig. Gewiss, historische Vergleiche, vor allem mit der Nazi-Zeit, sind immer problematisch und historische Konstellationen zudem nicht eins zu eins übertragbar. Dennoch komme ich zum Schluss, dass die jetzige Situation in Asien der im damaligen Europa nicht unähnlich ist. Das China des Jahres 2021 gleicht in vielem Deutschland der Jahre 1933 bis 1938.

Gehen wir die Punkte im Einzelnen durch:
» Wir haben ein totalitäres Regime, das die Bürger bespitzelt und bevormundet:
Die Nazis bauten nach der Machtübernahme im Jahr 1933 mit der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) rasch ein ausgeklügeltes Bespitzelungs- und Unterdrückungssystem auf. Außerdem wurden sämtliche demokratische Organisationen (z.B. die Gewerkschaften) verboten oder gleichgeschaltet, um den nationalsozialistischen Zielen zu dienen. Die Volksrepublik China hat heute durch die technische Entwicklung ganz andere Möglichkeiten zur Kontrolle ihrer Bürger, die sie auch weidlich nutzt. Die Überwachung ist nahezu allumfassend und reicht tief in den Privatbereich hinein. Mit der "Great Firewall" regeln die Machthaber in Peking akribisch, was das chinesische Volk wissen darf und was nicht. Obendrein steht die strikte chinesische Pressezensur der von Nazi-Deutschland in nichts nach.
» Wir haben eine Volksgruppe, die diskriminiert, entrechtet und in Lager gesperrt wird:
In Bezug auf Nazi-Deutschland muss man nur an die völlige Entrechtung der jüdischen Bürger erinnern, bei China genügt der Hinweis auf die Behandlung der Uiguren. In Deutschland wurden bereits 1933 die ersten Konzentrationslager errichtet, die Chinesen bezeichnen die Umerziehungslager, in denen über eine Million Uiguren eingesperrt sind, euphemistisch als "Schulungszentren". Menschenrechtsorganisationen berichten von massiven Verstößen gegen die Menschenrechte: willkürliche Verhaftungen, Inhaftierungen ohne Gerichtsurteil und rechtlichen Beistand, Folterungen, Vergewaltigungen sowie Hinrichtungen.
» Wir haben territoriale Ansprüche gegenüber den Nachbarstaaten und die Bereitschaft, militärische Gewalt anzuwenden:
Nazi-Deutschland wollte die Gebietsverluste, die dem Deutschen Reich im Friedensvertrag von Versailles auferlegt wurden, revidieren. Ebenso beanspruchte es die Hoheit über alle Gebiete mit mehrheitlich deutschsprachiger Bevölkerung (z.B. Sudetenland). Anfangs aufgrund der militärischen Schwäche noch mit diplomatischen Mitteln, später nach der rasch erfolgten Aufrüstung mit schroffen Drohungen und mit militärischer Gewalt. Ein aggressiver Kurs, der schlussendlich zum Zweiten Weltkrieg führte. China will zwar anders als Nazi-Deutschland keinen Lebensraum im Osten erobern, beansprucht aber im Südchinesischen Meer riesige Seegebiete für sich, die jedoch mit den territorialen Ansprüchen der anderen Anrainerstaaten kollidieren. Die formelle Unabhängigkeit der Republik China (Taiwan) wird mit einer unverhohlenen Kriegsdrohung verhindert. Xi Jinping im Januar 2019: "Wir geben kein Versprechen ab, auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten, und behalten uns die Möglichkeit vor, alle erforderlichen Mittel zu ergreifen." [1]
» Wir haben den eklatanten Bruch des Völkerrechts und den Verstoß gegen rechtsgültig unterzeichnete Verträge:
1936 marschierte die Wehrmacht im Rheinland ein, das aufgrund den Bestimmungen des Versailler Vertrages (1919) und des Vertrags von Locarno (1925) entmilitarisiert bleiben sollte. China bricht die gemeinsame chinesisch-britische Erklärung zu Hongkong, es handelt sich hierbei um einen völkerrechtlich verbindlichen und bei den Vereinten Nationen registrierten Vertrag. Im Südchinesischen Meer wiederum missachtet die Volksrepublik das Urteil des Schiedsgerichts in Den Haag, das die dortigen Hoheitsansprüche Chinas als unbegründet bezeichnete und somit für unrechtmäßig erklärte. Hintergrund sind die Bestimmungen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen, dem die Volksrepublik 1996 beigetreten ist, an das sie sich aber nicht hält. Die Militärpräsenz auf künstlich angelegten Inseln wird unvermindert ausgebaut.

Und wie reagieren wir? Der Westen betreibt bislang Appeasementpolitik, wir verhalten uns gegenüber China wie ehedem die britische Regierung unter Premierminister Neville Chamberlain. Insbesondere Deutschland hat in China gewichtige ökonomische Interessen, was uns in puncto Menschenrechte zum Leisetreter mutieren lässt. Die Volksrepublik war im Jahr 2020 zum fünften Mal in Folge Deutschlands wichtigster Handelspartner, so setzt zum Beispiel die deutsche Automobilindustrie fast die Hälfte ihrer Neuwagen im Reich der Mitte ab. Kritik wird daher nur behutsam vorgetragen und dient eher zur Beruhigung der deutschen Bevölkerung, sie soll die Machthaber in Peking keinesfalls nachhaltig verärgern. Die Politiker unter Staats- und Parteichef Xi Jinping, dem "überragenden Führer", wie er sich bejubeln lässt, sind nämlich erstaunlich schnell beleidigt.

Duplizität der Ereignisse: Trotz der massiven Menschenrechtsverstöße findet in Peking 2022 eine Winterolympiade statt. Die Entrechtung der jüdischen Bürger und die Existenz von Konzentrationslagern hat die Weltgemeinschaft 1936 genauso wenig abgehalten, in Berlin eine Sommerolympiade zu zelebrieren. Die Nazis wussten die Olympischen Spiele propagandistisch geschickt auszuschlachten, diese Gelegenheit werden sich die Machthaber in Peking sicherlich ebenfalls kaum entgehen lassen.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich setze Xi Jinping keineswegs mit Adolf Hitler gleich. Doch wir beurteilen die Nazi-Diktatur rückblickend immer in ihrer vollen Länge. Mir geht es freilich um Gemeinsamkeiten zwischen dem Kurs Deutschlands der Jahre 1933 bis 1938 und dem nicht minder aggressiven Kurs des heutigen China. Wie bereits eingangs erwähnt, historische Vergleiche hinken immer, aber die Parallelen sind, jedenfalls in meinen Augen, frappierend. Deutschland strebte die Weltherrschaft an, und das ist etwas, das offenbar auch die Chinesen zum Ziel erkoren haben.

Gegner in diesem Konflikt waren bzw. sind die liberalen westlichen Demokratien. Der Konflikt mit China muss nicht zwangsläufig in eine militärische Auseinandersetzung münden, aber die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Sollte Peking von der eigenen Stärke und der gleichzeitigen Schwäche seiner Gegner überzeugt sein, steigt die Kriegsgefahr enorm. Schon jetzt ist die aggressive Rhetorik Chinas mit einem Hang zur Überheblichkeit verbunden. China sieht sich angesichts des bislang wachsweichen Widerstands eindeutig auf der Siegerstraße. "Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Länder auf der Welt die Werte anerkennen, die die USA vertreten, oder dass sie die Meinung der USA für die internationale öffentliche Meinung halten", sagte Politbüromitglied Yang Jiechi kürzlich bei einem Treffen mit dem neuen US-Außenminister Antony Blinken in Anchorage/Alaska. [2] Eine explosive Mischung.

Staaten, die sich nur ans Recht halten, wenn es ihnen opportun erscheint, bewegen sich auf dünnem Eis. Das gilt wohlgemerkt für alle, also ausdrücklich auch für den Westen, der diesbezüglich kein Unschuldslamm ist. Es ist nicht ausgemacht, wohin dieser Konflikt noch führen wird. Wir sollten uns aber in puncto China von unseren Illusionen lösen und das Verhältnis realistischer bewerten. Und wir sollten uns auf eine Auseinandersetzung vorbereiten, die vielleicht nicht zu vermeiden ist. Diesen Konflikt kann der Westen nur gemeinsam bestehen.

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[1] n-tv vom 02.01.2019
[2] Süddeutsche vom 19.03.2021