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13. Mai 2021, von Michael Schöfer
Die Lösung kann nur auf den Regeln des Völkerrechts basieren


Der arabisch-israelische Konflikt macht es einem leicht und schwer zugleich. Leicht, weil man bei größeren Auseinandersetzungen kurzerhand seine Textbausteine hervorholen kann, viel Neues ist dazu nämlich gar nicht zu schreiben. Schwer, weil der Konflikt der Gordische Knoten unserer Zeit ist: politisch kaum zu entwirren - schon gar nicht mit einem Schwerthieb. Hinzu kommt, zumal als Deutscher, dass man sich bei Kritik an Israel häufig dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt sieht. Natürlich gibt es diesen Antisemitismus, aber man muss schon ganz genau hinhören und differenzieren, um gerechtfertigte Israelkritik von ungerechtfertigten antisemitischen Motiven zu trennen.

Der Grundfehler ist, das berechtigte Interesse der einen Seite anzuerkennen, aber gleichzeitig das berechtigte Interesse der anderen Seite zu ignorieren. Und der Konflikt wird andauern, solange beide Seiten (insgeheim) ihre Maximalpositionen durchsetzen wollen. Es gab einmal eine Zeit, da bestand Hoffnung. Stichwort: Oslo-Friedensprozess. Doch Oslo ist tot, weil sich auf beiden Seiten die Kompromisslosen durchgesetzt haben. Jitzchak Rabin (Arbeitspartei) wurde 1995 ermordet, heute wird Israel vom unter Korruptionsverdacht stehenden Benjamin Netanjahu (Likud) regiert. Auf palästinensischer Seite ist die PLO deutlich geschwächt und muss sich gegen den Machtanspruch der radikalislamistischen Hamas wehren, was ihr immer schwerer fällt. Mit Oslo ist auch die Zweistaatenlösung gestorben, das könnte freilich noch schlimme Folgen haben.

Das Existenzrecht Israels darf nicht infrage gestellt werden. Anders als von vielen Sympathisanten der Palästinenser dargestellt, steht die Gründung des Staates auf einem völkerrechtlich soliden Fundament. Von 1516 bis zum Ende des I. Weltkriegs im Jahr 1918 war Palästina Teil des Osmanischen Reiches, anschließend wurde es vom Völkerbund zum Mandatsgebiet unter britischer Verwaltung erklärt. Nachdem London beschloss, das Mandat an die unterdessen gegründeten Vereinten Nationen zurückzugeben, hat die UN-Generalversammlung 1947 den Teilungsplan für Palästina mehrheitlich gebilligt (33 Staaten stimmten dafür, 13 stimmten dagegen, 10 enthielten sich). Das war die völkerrechtliche Grundlage für die Staatsgründung Israels, die 1948 durch die von David Ben-Gurion verkündete Unabhängigkeitserklärung erfolgte.

Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser anzuerkennen, welche ebenfalls seit vielen Jahrhunderten in der Region zuhause sind (der UN-Teilungsplan für Palästina sprach ausdrücklich von zwei Staaten - "ein unabhängiger arabischer Staat und ein unabhängiger jüdischer Staat"). [1] Doch faktisch wird ihnen das Selbstbestimmungsrecht seit dem Sechstagekrieg im Juni 1967 von Israel vorenthalten. Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt: Vorher gleichermaßen von ihren arabischen "Bruderstaaten". Hauptstreitpunkte sind Jerusalem und das Westjordanland. Die radikale Siedlerbewegung nennt das Westjordanland "Judäa und Samaria", in biblischer Zeit war es das eigentliche Stammland der Juden. [2] Stimmen, darunter die von hochrangigen Mitarbeitern der israelischen Geheimdienste (Aman, Schin Bet, Mossad), die nach dem Sechstagekrieg einen Kuhhandel nach dem Motto "Land gegen Frieden" vorschlugen, konnten sich nicht durchsetzen. [3] Der nationale Siegestaumel und die religiöse Überhöhung waren stärker. An Israel haftet seitdem das Negativimage der Besatzungsmacht, die Juden mutierten in den Augen vieler von Verfolgten zu Unterdrückern.

Genau das hat sich für Israel zu einem Riesenproblem entwickelt. Erstens leben ja die Palästinenser nach wie vor in ihrer Heimat, sind demzufolge eine unbestreitbare Realität, zweitens ist die Besatzung und die teilweise Annexion der palästinensischen Gebiete völkerrechtswidrig. Im Westjordanland und in Gaza leben 4,7 Mio. Palästinenser (Stand 2019). [4] Ihnen stehen 9,1 Mio. israelische Staatsbürger gegenüber, von denen wiederum 6,7 Mio. Juden, 1,6 Mio. Muslime, 176.000 Christen und 144.000 Drusen sind. [5] Orientiert man sich allein an der Religionszugehörigkeit, haben Juden und Muslime fast einen Gleichstand erreicht (6,7 Mio. zu 6,3 Mio.) Ein großes Friedenshindernis sind die 432.000 jüdischen Siedler im Westjordanland alias Judäa und Samaria. Von Jerusalem, das von den Israelis und den Palästinensern als Hauptstadt beansprucht wird, ganz zu schweigen.

Das Völkerrecht verbietet Annexionen. Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen untersagt alle Maßnahmen, die "gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates" gerichtet sind. [6] Dies gilt, wie die Vereinten Nationen später präzisierten, ausdrücklich auch in Bezug auf die von Israel 1967 besetzten Gebiete, obgleich bis dato kein Palästinenserstaat existiert. Als Israel 1980 per Gesetz Ostjerusalem annektierte, hat der UN-Sicherheitsrat einstimmig die Resolution 478 angenommen (wobei sich die USA damals enthielten). Die Resolution erklärte das Jerusalemgesetz für "null und nichtig". Das Gremium stellte kategorisch fest: Die gewaltsame Aneignung von Gebieten ist unzulässig, die Annexion Ostjerusalems durch Israel folglich eine Verletzung des Völkerrechts. Mit Verweis auf die Resolution 476 wurde erneut bekräftigt, "daß zunächst und vor allem die anhaltende Besetzung der seit 1967 von Israel besetzten arabischen Gebiete, einschließlich Jerusalems, beendet werden muß". [7] Israel ignorierte dies.


Flickenteppich Westjordanland
[Quelle: United Nations OCHA oPt, West Bank
access restrictions map, Ausschnitt]


Wer das Existenzrecht Israels bejaht, muss zu allem anderen nicht schweigen. Die Menschenrechte sind universell, sie gelten demzufolge für Israelis und für Palästinenser. Wenn Israel mehrere Millionen Palästinenser jahrzehntelang im Status faktischer Rechtlosigkeit festhält, verstößt das gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte. Aber wer das Existenzrecht Israels bestreitet und insgeheim von einer "Befreiung ganz Palästinas" (unter Auslöschung der staatlichen Existenz Israels) spricht, verstößt genauso dagegen.

Aus der Sicht der radikalislamistischen Hamas ist die Entscheidung der UN-Generalversammlung "null und nichtig", die Gründung des Staates Israel sei "vollkommen illegal". Sie bekräftigt, dass sie weder Israel anerkennen noch einen Teil Palästinas aufgeben wird. Sie lehnt jede Alternative zur vollen und vollständigen Befreiung Palästinas ab. Allerdings: Als Interimslösung, ohne damit ihren weitergehenden Zielen abzuschwören, befürwortet sie die Bildung eines "vollständig souveränen und unabhängigen" palästinensischen Staates in den Grenzen vom 4. Juni 1967. Den Oslo-Friedensprozess lehnt sie jedoch vollständig ab. [8]

Die territoriale Ausdehnung von Palästina definiert sie als von der libanesischen Grenze im Norden bis nach Eilat im Süden gehend sowie vom Fluss Jordan im Osten bis zum Mittelmeer im Westen. [9] Für Israel ist da - langfristig gesehen - kein Platz. Beim Widerstand gegen die Besatzungsmacht billigt sie ausdrücklich "alle Mittel und Methoden". [10] Das bedeutet: Kein Frieden mit dem Staat Israel. Und kein Gewaltverzicht.

Zwar spricht die Hamas in ihrer Charta auch von "Koexistenz, Demokratie, Toleranz und Pluralismus", fordert sogar "freie und faire Wahlen", doch darf man solchen Lippenbekenntnissen angesichts der bitteren Realität in ihrem Herrschaftsbereich keinen Glauben schenken. Amnesty International berichtet mit Blick auf Gaza von willkürlichen Festnahmen, weitverbreiteter Folter, drakonischen Strafen, Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, exzessiver Gewaltanwendung von Polizei und Sicherheitskräften, Todesstrafen u.a. wegen "Kollaboration mit Israel" und öffentlichen Hinrichtungen. [11]

Kurzum, das volle Repertoire, das man von regierenden Islamisten erwartet. Wer sich in Bezug auf die Hamas Illusionen hingibt, ist bestenfalls als naiv zu bezeichnen. Wenn die Hamas beteuert, keinen Konflikt mit der jüdischen Religion zu haben, muss man das ebenfalls bezweifeln. In ihrer aktuellen Charta ruft sie zwar nicht mehr unverhohlen zum Mord an Juden auf, wie noch in der Charta aus dem Jahr 1988 [12], dennoch möchte man als Jude keinesfalls unter ihre Herrschaft geraten. Wer sich unvoreingenommen ansieht, wie Muslime untereinander Konflikte austragen, kann ein Pogrom an Juden nicht ausschließen. Im Gegenteil, Massaker sind in dieser Region durchaus üblich.

Gleichwohl: Einseitige Treuebekundungen, wie sie auch aktuell wieder zu hören oder zu lesen sind, sind völlig nutzlos, solange ihnen kein ernsthafter Versuch folgt, endlich das Grundproblem des Konflikts zu lösen. Und der Ausweg kann nur in der Zweistaatenlösung, sprich im beiderseitigen Abrücken von Maximalpositionen liegen, wenngleich sie derzeit von der politischen Agenda verschwunden zu sein scheint. Sollte Israel hingegen auch Teile des Westjordanlandes annektieren, käme spätestens das der Etablierung eines Apartheid-Systems gleich. Hier die israelischen Staatsbürger mit vollen Bürgerrechten, dort die Palästinenser mit minderen Rechten (u.a. kein Wahlrecht). Und all das innerhalb eines einzigen Staates. Benjamin Netanjahu sagt es offen: "Israel ist nicht der Staat all seiner Bürger. Nach dem von uns verabschiedeten Nationalstaatsgesetz ist Israel der Staat der Juden - und von niemandem sonst." [13] Der Flickenteppich der dann noch verbleibenden palästinensischen Wohngebiete wäre gewissermaßen das historisch verspätete Pendant zu den Homelands des südafrikanischen Apartheid-Regimes. Das würde nicht gutgehen.

Die Lösung des arabisch-israelischen Konflikts kann nur auf den Regeln des Völkerrechts basieren. Einseitige Vorgaben, die nicht im Konsens, sondern unter Anwendung von militärischer Gewalt durchgesetzt werden, führen niemals zu einer endgültigen Befriedung und Aussöhnung. Dies gilt wohlgemerkt für alle Beteiligten.

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[1] Vereinte Nationen, Resolution 181 (II) vom 29.11.2947
[2] siehe Der Kampf der Landkarten vom 16.06.2011
[3] siehe Ronen Bergman, Der Schattenkrieg, München 2018, Seite 150f oder Tom Segev, 1967, Bonn 2007, Seite 601f
[4] Statista, Palästina: Gesamtbevölkerung von 2009 bis 2019
[5] Israel Central Bureau of Statistics, Population by Religion, PDF-Datei mit 144 KB
[7] Vereinte Nationen, Resolutionen und Beschlüsse des Sicherheitsrats 1980, Seite 31f und 33ff, PDF-Datei mit 2,2 MB
[8] Hamas, A Document of General Principles and Policies, Charta der Hamas vom Mai 2017, Nr. 18 - 21, Seite 6
[9] Hamas, A Document of General Principles and Policies, Charta der Hamas vom Mai 2017, Nr. 2, Seite 2
[10] Hamas, A Document of General Principles and Policies, Charta der Hamas vom Mai 2017, Nr. 25, Seite 7
[11] z.B. Amnesty International, Palästina 2017/18, Report Palästinensische Autonomiegebiete vom 23.05.2018
[13] FAZ.Net vom 11.03.2019