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06. Juni 2021, von Michael Schöfer
Hetze und Negativwahlkampf


Es gibt viel Kritik an den sozialen Medien - und sie ist in weiten Teilen berechtigt. Zu Recht wird beklagt, dass es dort zu viele Filterblasen von Gleichgesinnten gibt, in denen man sich bloß gegenseitig auf die Schulter klopft und dadurch bestärkt. Manche sagen sogar "radikalisiert". Andere Meinungen erlebt man in diesen Blasen jedenfalls eher selten. Obendrein ist eine unangenehme Grundaggressivität spürbar, die sich wie Mehltau über die sozialen Medien legt. Oft werden Andersdenkende unter dem Schutz der Anonymität beschimpft und niedergemacht. Nein, die sozialen Medien sind definitiv kein Ort, an dem man zivilisiert Standpunkte austauschen kann, man fühlt sich dort nur eingeschränkt wohl.

Das wird gerade im aktuellen Bundestagswahlkamp überdeutlich. Nehmen wir als Beispiel Twitter: Seit Annalena Baerbock Kanzlerkandidatin der Grünen ist, wird sie auf dem Mikrobloggingdienst mit Hohn und Spott überzogen. Es wurden etwa gezielt Zweifel an ihrem akademischen Abschluss gesät, obgleich sie an der London School of Economics Völkerrecht studiert hat. Die LSE zählt weltweit zu den renommiertesten Universitäten und steht in Europa im Ranking auf dem Niveau von Oxford und Cambridge. Die meisten, die für Baerbock nur Hohn und Spott übrig haben, hätten auf dieser Elite-Universität wahrscheinlich nicht einmal die Aufnahmeprüfung geschafft. Aber das spielt auf Twitter leider keine Rolle. Nichtigkeiten werden zu vermeintlichen Skandalen aufgeblasen. Motto: Irgendetwas wird schon hängenbleiben.

Ein anderes Beispiel: Annalena Baerbock war bei Talk-Sendung "Maischberger" zu Gast. Auf den Hinweis von Sandra Maischberger, dass Erneuerbare Energien nicht gespeichert werden könnten, erwiderte Baerbock, dass "natürlich in Zukunft der gesamte Energiemarkt, das gesamte Energiemarktdesign neu gedacht werden muss. Da gibt es nicht mehr Atomkraftwerke und Kohlekraftwerke, die laufen durch, sondern wir haben volatile Energie, das heißt Wind ist nur wenn Wind weht, logischerweise, Sonne ist nur wenn Sonne scheint. Wir haben Grundlast durch Biomasse, und wir haben, und das ist neu, das ist auch interessant für Startups und Unternehmen, zum Beispiel Rechenzentren, große Supermärkte, die dann als Energieerzeuger in den Markt reinkommen. Und wenn eine Kühlung, zum Beispiel bei einem riesengroßen Produzenten von minus 22 Grad in Zukunft dann auf minus 20 Grad runterkühlt, dann ist das Hühnchen immer noch kalt, aber wir können an der Grundlast das Netz so stabilisieren, dass sich im Netz die unterschiedlichen Akteure ausgleichen. In Zukunft wird das Netz eine Rolle auch bei der Speicherung spielen." [1]

Anschließend gossen User auf Twitter erneut Kübel von Hohn und Spott über Baebock aus: "Wenn die Rechenzentren und Supermärkte erst ihre Stromerzeugung aufnehmen, ist die Energiewende gerettet", war noch ein Einwurf von der harmlosen Sorte. "Mathematik ist nicht gerade ihre Stärke, von Logik weit entfernt." "Die Dame erzählt freidrehenden Unsinn." Baebock sei "sagenhaft dumm" oder "strunzdumm", sie sei "unerträglich" oder "Realsatire" und daher keinesfalls wählbar. Uff, ich möchte nicht in der Haut von Baerbock stecken. Wie hält sie diese Hetze aus?

Und die Crux ist: Baerbock hat auch noch vollkommen recht. Wer bei Wikipedia mit "Residuallast" oder "Demand-Side-Management" sucht, findet zum Beispiel diesen Hinweis: "Laststeuerung wird schon seit vielen Jahren von den Saarbrücker Stadtwerken betrieben. Hierbei werden die Kühltruhen und Kühlschränke in Supermärkten für eine bestimmte Zeit abgeschaltet. Die Thermostate sind dabei vorher so eingestellt, dass sie die Lebensmittel bei einer etwas tieferen Temperatur kühlen bzw. gefrieren. Wird dann vom Stromversorger per Fernsteuerung das Kühlgerät vom Stromnetz getrennt, so können sie ca. 1 bis 2 Stunden abgeschaltet bleiben, bevor sie wieder eingeschaltet werden müssen, um die Lebensmittel vor dem Antauen zu schützen." [2] Die neue Energielandschaft ist vielfältig, intelligent vernetzt und dezentral, künftig werden sogar unsere Elektroautos als Regulativ und Stromspeicher dienen. Man muss hierfür nur die richtigen Gesetze beschließen und Investitionsentscheidungen treffen.

Baerbock wird obendrein, bewusst oder unbewusst sei dahingestellt, missverstanden. Natürlich verbrauchen Rechenzentren viel Strom, aber die Kanzlerkandidatin der Grünen hat ja auch nicht gesagt, dass Rechenzentren zu "Stromerzeugern" werden, sie hat vielmehr ausdrücklich von "Energieerzeugern" gesprochen. Und Energie ist bekanntlich nicht bloß Strom. In Finnland ist es gang und gäbe, die in Rechenzentren entstehende Abwärme für die Fernwärme zu nutzen, insofern sind sie durchaus Energieerzeuger - nur eben im vorliegenden Fall von Wärmeenergie, mit der dann die Privathaushalte versorgt werden. [3] In der schwedischen Hauptstadt Stockholm sollen bis 2035 zehn Prozent der Haushalte "allein durch Abwärme aus Rechenzentren geheizt werden". Die bislang ungenutzte Abwärme ersetzt dort peu à peu fossile Energie, die in der Vergangenheit zur Erzeugung von Wärme gedient hat. "Bis 2040 möchte die Stadt ganz ohne fossile Brennstoffe auskommen." [4] Eine dramatische Steigerung der Energieeffizienz.

Aber es ist natürlich viel leichter, auf Twitter rasch einen gehässigen Tweet über Baerbock zu schreiben, als sich in gesitteter Form mit ihren klugen Argumenten zu befassen. Ohnehin verführt Twitter die User zum wenig reflektieren Tweeten, schon allein durch die 280-Zeichen-Begrenzung ist die Diskussion naturgemäß aufs Allernotwendigste beschränkt.

Apropos Gehässigkeiten: Ganz schlimm treiben es CDU und CSU. Obgleich sie, im Übrigen als einzige der zur Wahl stehenden Parteien, noch immer kein Wahlprogramm präsentiert haben, versuchen sie Baebock fortwährend zu diskreditieren. So hat beispielsweise die CSU auf Instagram ein Foto veröffentlicht, das offenbar bedeuten soll: Baerbock denkt bzw. redet nur Scheiße.


Screenshot vom CSU-Account auf Instagram

Argumente? Fehlanzeige! Echt unterirdisch. Und das ist nur ein Beispiel für den absolut niveaulosen Negativwahlkampf, den die Union seit Wochen abliefert. Ein gewisser Hans-Georg Maaßen, ehedem Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und heute CDU-Wahlkreiskandidat im Bundestagswahlkreis 196 (Suhl - Schmalkalden-Meiningen - Hildburghausen - Sonneberg), fühlt sich tatsächlich bemüßigt, folgenden Tweet zu veröffentlichen: "Annalena Charlotte Alma Baerbock = ACAB = All Cops Are Bastards. Zufall oder Chiffre?" [5] Ist das an Peinlichkeit eigentlich noch zu überbieten? Antwort: Abwarten, die Bundestagswahl ist erst in knapp vier Monaten, da kann noch viel kommen. Die Union wird sich sicherlich redlich bemühen, weiterhin mit viel Dreck auf die Grünen zu werfen. Was auch sonst? In Ermangelung eines Programms bleibt ihr ja keine Alternative.

Die Wählerinnen und Wähler sollten sich die Frage stellen: Wollen wir wirklich von Parteien regiert werden, die ständig bloß an die primitiven Instinkte appellieren? Hat unser Land nichts Besseres verdient?

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[1] Twitter, Account von @TraderExpat, ab Min. 1:04
[2] Wikipedia, Laststeuerung
[3] datacenter-insider vom 12.01.2021
[4] Süddeutsche vom 02.05.2017
[5] Twitter, Account von @HGMaassen