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28. August 2021, von Michael Schöfer
Das vorhersehbare Debakel


"Hinterher, im Nachhinein präzise Analysen und Bewertungen zu machen, das ist nicht wirklich kompliziert. Hinterher, im Nachhinein alles genau zu wissen und exakt vorherzusehen, das ist relativ mühelos", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Bundestagsdebatte mit Blick auf das Debakel in Afghanistan. Natürlich gibt es stets jede Menge Schlaumeier, die hinterher immer ganz genau wissen, warum von vornherein klar war, dass aus einer bestimmten Sache nichts werden konnte. Allerdings gibt es auch Kritiker, die alles von Anfang an korrekt vorhergesagt haben, bloß hat keiner der Verantwortlichen auf sie gehört. Doch genau das blendet die Kanzlerin aus.

Kurioserweise werden diejenigen, die recht gehabt haben, dann auch noch abwertend als "Rechthaber" verunglimpft. Trotz dieser Gefahr erlaube ich mir, mich kurzerhand selbst zu zitieren: "Mit der Tötung von Unschuldigen würde sich der Westen moralisch und juristisch [mit den Terroristen] auf die gleiche Stufe stellen. (…) Ein Guerillakrieg in einem sogenannten 'Schurkenstaat' ist unter solchen Bedingungen, wie die Erfahrungen der Sowjetunion in Afghanistan drastisch gezeigt haben (rund 14.000 russische Soldaten verloren dabei ihr Leben), schlechterdings nicht zu gewinnen. Von einem umfassenden und globalen Sieg über den Fanatismus (gleich welcher Couleur) ganz zu schweigen. Vermutlich ist das eh nur eine Illusion. Wird in den islamischen Ländern die jetzt schon vorhandene Abneigung gegenüber dem Westen beträchtlich verstärkt, könnte das, etwa bei einem radikal-islamistischen Putsch im Atomwaffenstaat Pakistan, unabsehbare Folgen haben. Kurzum, blindwütige Rache ist deshalb prinzipiell kontraproduktiv und schon allein von daher ganz und gar ungeeignet." [1] Das habe ich wenige Tage nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York geschrieben - also noch bevor die Nato in Afghanistan militärisch intervenierte (offizielle Aufnahme der Kampfhandlungen war am 07.10.2001). Wir erinnern uns: Damals gab es etliche Kritiker des gerade unter George W. Bush bereits absehbaren blindwütigen Dreinschlagens, sie gingen jedoch in der aufgeheizten politischen Atmosphäre unter.

Leider ist es dann fast genau so gekommen: Der Westen verstrickte sich in Afghanistan in einen verlustreichen Guerillakrieg und hat sich durch die Missachtung des Völkerrechts (Internierung "illegaler Kombattanten" in Guantanamo) und die Anwendung der Folter (u.a. im Militärgefängnis auf der Bagram Air Base) moralisch vollständig diskreditiert. Und wie wir heute sehen, haben wir den Krieg gegen die Taliban am Ende auch verloren. Dabei war es keineswegs so, dass ich den Einmarsch in Afghanistan grundsätzlich abgelehnt hätte. Ich war durchaus dafür, die Taliban von der Macht zu vertreiben. Doch was man dann daraus gemacht hat, entpuppte sich als falsch und illusionär. Die Naivität, aus einem Land wie Afghanistan im Schnelldurchgang eine Demokratie machen zu wollen, ist schier unfassbar. Zumal, wenn man dort einer korrupten Politikerkaste zur Macht verhilft, die zuallererst an ihre eigene Bereicherung denkt und in puncto Demokratie bloß Lippenbekenntnisse ablegt. Was haben wir eigentlich unter diesen Rahmenbedingungen erwartet?

Hat der heftig kritisierte US-Präsident Joe Biden nicht recht damit, einen solchen Krieg nicht endlos in die Länge ziehen zu wollen? Und ist das totale Versagen der afghanischen Armee nicht in der Tat blamabel? Aber wenn sie nicht für ihr eigenes Land kämpft, warum sollte es der Westen tun? Insofern ist ein Ende mit Schrecken wesentlich besser als ein Schrecken ohne Ende. Das soll die dilettantische Verhandlungstaktik seines Vorgängers keineswegs beschönigen. Der chaotische Rückzug geht nämlich vor allem auf die Kappe von Donald Trump, der Joe Biden die Suppe eingebrockt hat, die dieser nun gezwungenermaßen auslöffeln muss.

Von der Trump-Administration war sowieso keine durchdachte Exit-Strategie zu erwarten, die deutsche Regierung und der Deutsche Bundestag hätten es freilich besser machen müssen. Bereits 2019 (!) hat die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag eingebracht, der die Einführung eines Gruppenverfahrens zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte zum Ziel hatte. Damit wären rechtzeitig (!) alle Formalitäten (Erfassung auf Namenslisten, Visa, Pässe, Sicherheitsüberprüfungen etc.) erledigt gewesen, um die einheimischen Hilfskräfte der Bundeswehr und ihre Familienangehörigen im Bedarfsfall rasch und unbürokratisch ausfliegen zu können. [2] Nach langen Verzögerungen wurde dieser Antrag schließlich am 23. Juni 2021 mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und AfD abgelehnt. [3]

Zwei Tage danach, am 25. Juni 2021, hat die Bundesregierung zwei bereits gecharterte Passagiermaschinen, die afghanische Ortskräfte in Masar-i-Scharif abholen sollten, wieder storniert. Unglaublich, aber wahr: Die Durchführung der Rettungsflüge scheiterte an fehlenden Pässen und Visa! [4] Pässe und Visa, die bei frühzeitiger Annahme des Antrags der Grünen wahrscheinlich dagewesen wären. Ein unverzeihliches Staatsversagen. Die Tränen, die die Verantwortlichen den von ihnen im Stich gelassenen Ortskräften nachweinen, sind deshalb lediglich Krokodilstränen. Man hätte es besser wissen und man hätte es besser machen können, doch man wollte nicht. Kein leichtsinniges Versehen, sondern pure Absicht. Es ist eine Schande, wie Deutschland die Hilfskräfte der Bundeswehr behandelt hat.

Man muss ohnehin misstrauisch sein. Der Westen redet zwar gerne von Werten, die er angeblich bewahren und möglichst überall verbreiten will, in Wahrheit geht es jedoch allzu oft nur um politischen Einfluss, militärische Interessen und ökonomische Vorteile. Vorne mit Schalmeienklängen über Demokratie und Menschenrechte schwadronieren, hintenherum Waffen an übel beleumundete Diktatoren liefern (z.B. an Abd al-Fattah as-Sisi in Ägypten) oder putschenden Armeen die Stange halten (z.B. in Mali). Der Westen hat allen Anlass, endlich seinen verlogenen "humanitären" Interventionismus zu revidieren. Natürlich haben wir weltweit Interessen zu verteidigen. Tun wir es nicht, stoßen andere bereitwillig ins Vakuum hinein. Doch unsere vollmundig abgegebenen Erklärungen stimmen nicht mit unserem tatsächlichen Handeln überein. Sind wir etwa bereit, ökonomische Nachteile in Kauf zu nehmen, um das wirklich demokratische China (Taiwan) zu unterstützen? Sind wir bereit, das Ausplündern Afrikas mithilfe einer oft eigennützigen "Entwicklungspolitik" einzustellen, um dort stabile politische Verhältnisse zu ermöglichen? Wer korrupte Regime finanziert, sollte sich nicht über Armutsflüchtlinge wundern. Doch das ist ein weites Feld - ein viel zu weites, um es hier in der gebotenen Kürze zu erörtern.

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[2] Deutscher Bundestag, Drucksache 19/9274 vom 10.04.2019, PDF-Datei mit 148 KB
[3] Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 19/235, Stenografischer Bericht der 235. Sitzung, PDF-Datei mit 1,4 MB, siehe Seite 30507
[4] Süddeutsche vom 18.08.2021