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28. November 2021, von Michael Schöfer
Konservative haben keine Antwort auf die Herausforderungen


In der Biologie spiegelt sich bei den Spezies die gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Progressiven wider. Für Spezies kann es von Vorteil sein, ihre biologischen Merkmale beizubehalten, sofern sie optimal an ihre ökologische Nische angepasst sind und die Umweltbedingungen über längere Zeit hinweg stabil bleiben. Ändern sich Letztere jedoch, haben Spezies nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie passen sich an, d.h. entwickeln neue Fähigkeiten, oder sie gehen unweigerlich unter. In den Jahrmilliarden der Geschichte des Lebens passierte fortwährend beides, allerdings mit einer erstaunlichen Bilanz: 99,9 Prozent aller jemals existierenden Arten sind ausgestorben, ganze 0,1 Prozent haben durch Anpassung überlebt.

Das Gleiche geschieht in menschlichen Kulturen, aber naturgemäß in viel kürzeren Zeiträumen. Die Jäger und Sammler der Frühgeschichte mussten nach der Neolithischen Revolution gezwungenermaßen den Ackerbauern und Viehzüchtern weichen, weil ihre Lebensweise nicht mit der wesentlich höheren Effizienz der sesshaften Gemeinschaften konkurrieren konnte. Die Renaissance ging mit einer Revolution der Wissenschaft und Technik einher, die die Dominanz der Religion peu à peu zurückdrängte. Gesellschaften, die starr am Glauben festhielten, fielen unweigerlich zurück, während sich in den liberaleren Gesellschaften die industrielle Revolution entwickelte. Stets war die alles entscheidende Frage: An der Tradition festhalten oder neue Wege gehen?

An dieser Weggabelung stehen wir auch heute: Entweder wir passen unsere Lebensweise an und verhindern die Klimakatastrophe sowie das Artensterben, oder wir bleiben in der traditionellen Lebensweise verhaftet und gehen unter. Der von Menschen verursachte Klimawandel und das ebenfalls vom Menschen verursachte Artensterben werden die Lebensverhältnisse auf unserem Planeten radikal verändern. Der anpassungsfähige Homo sapiens wird zwar kaum ganz von der Erde verschwinden, aber der Planet wird vielen Milliarden Individuen keine Lebensgrundlage mehr bieten. Das Umkippen der jahrtausendelang vergleichsweise stabilen Umweltbedingungen scheint unmittelbar bevorzustehen und bedroht unsere Zivilisation.

Konservative haben keine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit, das hat etwa der Bundestagswahlkampf 2021 hinreichend bewiesen. Das Jahrhunderthochwasser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz war Meteorologen zufolge auf den Klimawandel zurückzuführen. Und was hatte der Kanzlerkandidat der Union dazu zu sagen? "Weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik." [1] Friedrich Merz wiederum, momentan der aussichtsreichste Kandidat für den CDU-Vorsitz, glänzte mit der Forderung, das Gendern (die geschlechtergerechte Sprache) zu verbieten, verlor sich also in Nichtigkeiten anstatt sich den drängenden sozialen Problemen zu widmen. [2] Typisch Union: Einerseits lehnte sie zwar alle Maßnahmen, die Wohnungsnot zu lindern, konsequent ab (Mietendeckel, Enteignung von Wohnungsunternehmen, Verschärfung der Mietpreisbremse), blieb aber andererseits plausible Vorschläge schuldig, wie die objektiv vorhandene Misere auf dem Wohnungsmarkt anzupacken sei.

In Gesellschaften liegen ständig konservative und progressive Strömungen im Widerstreit. Natürlich ist es selten gut, sämtliche Traditionen über Bord zu werfen, weil sich einige davon durchaus bewährt haben. Die Ablehnung jeglicher Veränderung kann allerdings auch eine Gesellschaft paralysieren und dadurch in die Bredouille bringen. Ändern sich die äußeren Bedingungen, ist das starre Festhalten an überkommenen Traditionen fatal. Insofern ist der Ausgang der Bundestagswahl Anlass für ein wenig Hoffnung.

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[1] Der Tagesspiegel vom 16.07.2021
[2] Der Tagesspiegel vom 23.04.2021